2025 – Milena Keller
Trennvorhänge

Milena Keller

Die Mutter starrt die Hirnströme der Tochter an. Die grünen Linien bewegen sich hoch und nieder; Ströme in Wellen. Die Kamera über uns surrt, mein Kopf macht mit, nur die Mutter ist still. Seit die Tochter schläft, ist ihr Gesicht in sich zusammengesunken.
«Wie lange bleiben Sie?», fragt sie mich.
«Vermutlich vier Tage. Je nachdem, was die Tests ergeben». Ich kann es mir noch immer nicht vorstellen, obwohl ich bereits hier bin. Vier Tage lang verkabelt in diesem Raum, Elektroden auf der Kopfhaut festgeklebt, der Bewegungsradius durch die Kabel an den Elektroden begrenzt. Bett oder Sessel. Wenn ich klingle, darf ich kurz entkabelt auf die Toilette hinter der Schiebetür in der Ecke. Der Flur vor dem Zimmer ist bereits unerreichbar, von der Welt vor unserem Fenster ganz zu schweigen.
Die Mutter nickt. Für sie ist das nicht nur leicht vorstellbar, es ist ihre Realität. Ich weiss nicht, wie viele Male sie bereits hier waren aber bisher haben alle Mitarbeitenden das Kuscheltier der Tochter mit Namen gekannt. Feusi.
Den ersten epileptischen Anfall hatte die Tochter mit knapp zwei Jahren, haben mir die beiden vorhin erzählt. Vielleicht war da auch schon früher einer und sie haben es nicht bemerkt. Im Gegensatz zu meinen Anfällen kommen ihre Anfälle nur im Schlaf. Bisher haben sie die Ursache dafür noch nicht herausgefunden. Jetzt ist das Mädchen 15, wirkt aber viel jünger. Die Medikamentenliste ist lang. Ich habe versucht, nicht hinzuhören, aber das ist schwierig in einem Raum von knapp 20 Quadratmeter. Da hilft auch ein zugezogener Trennvorhang nichts. Die Mutter hat den Trennvorhang nach dem Eintrittsgespräch selbst wieder geöffnet. Wahrscheinlich hat sie längst gelernt, dass es in manchen Situationen mehr Energie kostet, sich gegenseitig zu ignorieren, statt die Präsenz eines anderen Menschen zur Kenntnis zu nehmen. Oder sie will einfach wissen, wer da neben ihrem Mädchen leben und schlafen wird.
«Vielleicht wird sie Sie wecken», sagt die Mutter und schaut noch immer auf die Aufzeichnungen der Hirnströme. «Sie erschrickt meistens, wenn sie von einem Anfall erwacht, und schreit dann auf. Aber mehr als fünf Mal pro Nacht kommt es selten vor», ich nicke und würde gerne etwas sagen, finde aber keine passenden Worte für eine Antwort. Wahrscheinlich gibt es die auch nicht.
Was soll ich schon sagen; «Machen Sie sich keine Sorgen?», «Kein Problem» oder doch gleich aussprechen, was eine Stimme in meinem Kopf flüstert: «Immerhin ist Ihre Tochter bereits auf der Welt, immerhin hören Sie sie schreien, immerhin können Sie sie küssen und festhalten, wenn sie aufwacht?»
Langsam streicheln meine Finger über meinen Bauch und ich versuche, Ruhe einzuatmen, Ruhe auszuatmen. Noch ist nichts entschieden. Noch ist nichts entschieden.
Ich reisse mich zusammen und suche mangels Antworten nach einer Frage, um das Gespräch nicht abreissen zu lassen. Genau so, durch Überforderung, durch falsche Vorsicht, entsteht dieses Vakuum, das ich selbst gerade erlebe, die plötzliche Stille um einen herum. Also; fragen. Aber die Mutter steht auf und küsst die Tochter auf die Stirn. «Ich muss kurz den Hund rauslassen», sagt sie und geht aus dem Zimmer.
Die Bildschirme hinter mir zeigen die Aufzeichnungen meiner Hirnströme, grüne Linien in Aufruhr, übereinandergeschichtet. Ich versuche, ihnen irgendeine Logik, irgendein Zeichen abzuringen. Eine Antwort.
«Bitte halten Sie den Kopf so, dass wir ihr Gesicht sehen können», mahnt mich die EEG-Technikerin über die Lautsprecher.

Nach dem Abendessen erzählt mir das Mädchen von den verwickelten Beziehungen in ihrer Klasse. Ihre beste Kollegin hat jemandem namens M. auf der Turnhallentoilette einen geblasen. M. hatte zwar gerade Pause mit seiner Freundin – der anderen besten Kollegin des Mädchens – aber das war trotzdem gegen den Kodex. Jetzt reden ihre beiden besten Kolleginnen nicht mehr miteinander und auch nicht mehr mit M. Deshalb hat M. das Mädchen nun schon zwei Mal mit seinem Motorrad abgeholt. Sie haben auch schon geknutscht. Aber eigentlich ist das Mädchen in J. verliebt, der wohnt auf Mallorca und hat einmal einen Kommentar des Mädchens mit einem Herz versehen. Es will mir ein Foto von J. zeigen, aber die Kabel, die an unseren Elektroden hängen, sind zu kurz und ich traue mich nicht, die Pflegefachpersonen wegen so etwas zu fragen. Sie haben uns erst vor dem Abendessen entkabelt, um auf die Toilette gehen zu können. Jetzt sitzen die Menschen, die heute Nacht für uns zuständig sind, im Nebenraum und hören jedes Wort mit, betrachten jede Regung unserer Gesichter, analysieren in Echtzeit die Aufzeichnungen unserer Langzeit-EEGs.
J. scheint mir ein unverfänglicheres Thema für all die unsichtbaren Ohren zu sein und deshalb will ich alles über J. wissen. Das Mädchen lacht.
«Ich schicke dir einen Screenshot über Airdrop». Kürzere Sätze sagt es problemlos, bei längeren kommt es ins Stocken. Jetzt versinkt es im Handybildschirm und ich blättere in meinem Buch. Mein Handy liegt mit dem Bildschirm nach unten auf dem Nachttisch. Der Suchverlauf spult sich auch so pausenlos in meinem Kopf ab; Embryo + epileptischer Anfall, Sauerstoffmangel + Embryo + Entwicklung, Hirntumor + Schwangerschaft, Embryo + Narkose + Risiken.
Ich denke an die Schule des Mädchens und an die M.’s dieser Welt und schaue die Pflegerin an, wie sie das Mädchen anschaut, als sie ihm den Lappen zum Waschen bringt. Zum Waschen werden wir nicht entkabelt aber der Vorhang in der Mitte des Zimmers wird wieder gezogen. Die Kamera bleibt an.
Ich telefoniere mit T. und er bringt mich zum Lachen und schickt Küsse und morgen ist er wieder in Zürich und kommt vorbei. Das Mädchen fragt, ob das mein Mann war und ich sage, nein, mein Freund und das Mädchen will wissen, warum und ich sage, wir sind glücklich so und der nächste Suchverlauf geht in meinem Kopf ab und ich bereue, nicht einfach ja gesagt zu haben, ja, das war mein Mann, morgen siehst du ihn live, dann kannst du mir sagen, ob er hot ist (das Mädchen hat versucht, mir die verschiedenen Abstufungen von Hotness zu erklären aber ich kenne die Streamer und Tiktoker nicht, die es mir als Referenz für die Abstufungen angegeben hat und so viele Screenshots wollte es nun doch nicht machen). Im Dunkeln fragt es mich, ob wir vor dem Einschlafen ein bisschen reden können. «Ich schlafe nicht so gerne ein», sagt es, bevor es einschläft.
Ich wache vier Mal auf, weil Menschen um das Bett des Mädchens huschen. Es schreit nicht, es wimmert. Lichter blinken, Bettdecken und Kleider rascheln und schon ist es sieben Uhr. Zeit für die Morgenvisite. Der leitende Arzt lässt die Assistenzärzt*innen mündlich Berichte über uns abgeben. Der Vorhang im Zimmer ist wieder zugezogen.
Es ist ihr Job, ich weiss, und ein wichtiger noch dazu, und ich verstehe, dass sie Blickkontakt vermeiden, während sie Bericht über uns abgeben, aber ich sitze trotzdem hier, mit Elektroden auf dem Kopf und grünen Linien hinter mir und Kameras und Mikrofonen über mir, und ich muss jemanden fragen, wenn ich auf die Toilette gehen möchte, und ob ich ein Glas Wasser trinken darf, und ich werde nicht gefragt, ob ich Blut geben möchte, sondern werde darüber informiert. Ich werde darüber informiert, dass jetzt der Test mit den Stroboskop-Lichtern ansteht und jetzt der Test mit dem Hyperventilieren, und wenn ich wissen will, ob das einen Einfluss auf den Embryo hat, muss ich halt fragen. Holschuld, Bringschuld, Holschuld. Es ist ihr Job, professionell zu bleiben. Ich bin dankbar für die medizinische Versorgung, dankbar, für den Zugang dazu, dankbar, dass jemand diesen Job macht, trotz diesen Strukturen, den Arbeitszeiten, den Arbeitsbedingungen.
«Patientin, weiblich, 38 Jahre alt …».
Ich lächle sie alle an, wie sie im Halbkreis um mich herumstehen, beantworte ihre Fragen und als ich meine stellen will, müssen sie weiter, «aber die Ärztin kommt später». Danach gibt es Frühstück.

T. hält meine Hand und streicht mit der anderen über meine verfilzten Zöpfe. Damit die Elektroden möglichst gut auf der Kopfhaut haften, haben mir zwei Pflegefachpersonen beim Eintritt die Haare aus dem Weg geflochten und die Haut mit einer blauen Paste gepeelt. Unterdessen juckt es.
T. versichert mir, dass meine Haare nach Desinfektionsmittel riechen und nach nichts anderem. Er erzählt mir vom Mittagessen mit einem Kunden heute, von der Nachbarskatze, die sich schon wieder in unsere Wohnung geschlichen hat und dass er sie dieses Mal einfach auf dem Sofa hat schlafen lassen. «Ich wäre schliesslich auch lieber bei uns als bei Frau Schorno».
Wir reden über alles Mögliche, ausser über die Entscheidung. Die Messungen spucken ihre Zahlen aus, die Tests ihre Daten, aber ich weiss nicht, ob wir durch solche Informationen wirklich mehr wissen als zuvor. Es konnten keine weiteren Anfälle ausgelöst werden. Der Tumor ist ziemlich sicher gutartig. Es ist noch immer eine geriatrische Schwangerschaft. Die Entscheidung liegt noch immer bei uns.
Draussen vor dem Fenster schneit es. Morgen werde ich die Kälte wieder auf dem Gesicht spüren können, Luft einatmen, die nicht erst für mich gefiltert worden ist, gehen, wohin ich will. Als Erstes in den Wald, beschliesse ich.
«Und?», frage ich das Mädchen, als T. weg ist. «Fire!», erklärt es und sucht die Celebrity Lookalikes von T. heraus. Dieses Mal bestehe ich auf die Screenshots.

Ich sitze in meinem Sessel und ziehe zum ersten Mal seit vier Tagen wieder Schuhe an. Der Koffer steht bereit. Eine Pflegefachperson löst sanft die Kabel von den Elektroden auf meinem Kopf und der Bildschirm hinter mir wird schwarz. Es ist eigenartig, plötzlich nicht mehr das Gewicht der Kabel im Nacken zu spüren, den Kopf frei drehen zu können. Zum ersten Mal würde ich gerne den Trennvorhang zuziehen.
Schräg vis-à-vis sitzt die Mutter und starrt die Hirnströme ihrer Tochter an. Das Mädchen ist eingeschlafen. Die grünen Linien hinter ihr bewegen sich hoch und nieder, eng aneinandergeschmiegt, Informationen ohne Antwort; Wellen in Aufruhr.