2021 – Ein Gespräch zwischen Lana Bastašić und Karl Rühmann
Warum erzählen wir Geschichten?

Warum schreiben wir?

Man wächst mit Geschichten auf, man hört sie, liest und erzählt sie, und dann verspürt man den Wunsch, sie aufzuschreiben. Wenn man grösser wird, legt man sie auf die Wirklichkeit und prüft, wie viel nicht passt und wo welcher Zipfel hervorschaut. Dazu gehört auch das Bedürfnis nach Hinwendung, Ansprache, Kontakt. Vielleicht hat uns immer wieder jemand gefehlt, an den wir uns hätten wenden können? Ein imaginärer Freund, ein vorgestelltes Publikum?

Aber es ist auch wichtig, dass alle, die unsere Geschichten lesen, darin etwas Eigenes finden. Dass wir ihnen sozusagen die Geschichten zurückgeben, die sie auf ihrem Lebensweg verloren haben. Ich will ja im Grunde, dass die Leute ihre eigene Geschichte lesen, nicht meine.

Und doch braucht es etwas Persönliches, Ureigenes, es braucht Details, welche die Geschichte an einem Ort, an einem Leben festmachen. Ist das nicht das Schwierigste: dieses Konkrete, Persönliche im Allgemeingültigen zu finden?

Doch. Wenn wir schreiben, tauchen wir tief in unsere Innenwelt ein, und wenn wir lesen, auch. Im Grunde suchen wir in allen Geschichten nach uns selbst, ob wir schreiben oder lesen. Wenn man diesen Gedanken weiterspinnt, merkt man, dass beides persönlich ist, gleichsam intim. Und wenn man sich die Kindheit in Erinnerung ruft, merkt man, dass das schon früh angefangen hat. Hat man dir, als du klein warst, oft Geschichten erzählt?

Eigentlich nicht. Mein Vater war Zahnarzt, meine Mutter Zahnärztin, bei uns lagen vor allem Fachbücher herum. Du machst arglos ein Buch auf und bist im Inneren eines Menschen, siehst Muskeln, Knochen, Zähne … Darum habe ich das Menschliche zunächst nicht in der Gefühlswelt, sondern im Körperlichen gesehen. Erst später haben mir meine beiden Großmütter die Welt der Geschichten nähergebracht. Wie war es bei dir?

Ich habe schon früh damit angefangen, Geschichten zu erfinden und so zwischen mich und das Chaos eine Distanz zu legen. Erzählen als der beste Weg, die Wirklichkeit unter Kontrolle zu bringen, sie aus einer anderen Perspektive zu sehen.

Genau. Ich bin in Banja Luka, in Bosnien aufgewachsen, sozusagen in der einen Geschichte, mit der einen Perspektive. Diese Perspektive hat darüber bestimmt, wie wir uns selbst und wie wir «die anderen» gesehen und die Unterschiede zwischen uns und ihnen festgestellt haben. In dieser Geschichte gab es die Guten und die Bösen. Und da kommt plötzlich der Moment, wenn dir aufgeht, dass es vielleicht auch eine andere Geschichte gibt. Nur wird sie von jemandem aus einer anderen Perspektive erzählt, die mir nicht zugänglich ist. Vielleicht ist das die Aufgabe von uns Erzählerinnen und Erzählern: den Zugang zu einer anderen Perspektive zu ermöglichen. Im Selbstverständnis der Völker auf dem Balkan haben sich Geschichten festgesetzt, aus denen diese Völker nur schwer ausbrechen können. In diesen Geschichten sehen sich alle als Opfer. Danilo Kiš hat dieses Festhalten an der Opferrolle als eine Form von Paranoia definiert, als Angst, dass einem etwas weggenommen wird. Nach ihm ist die Unfähigkeit, eine andere Perspektive einzunehmen, die Wurzel des Nationalismus.

Ist es vielleicht an uns, die Menschen von ihren festgefahrenen Mythen abzubringen?

Sicher. Eines der gefährlichsten Wörter in jeder Sprache ist das Wort «normal». Normal ist, wer diesem einen Muster folgt, einem, das schon immer gegolten hat. Wer dieses Muster in Frage stellt, stört. Das ist auf dem Balkan sehr ausgeprägt. Aber die Literatur bietet andere Muster. Oder sie entlarvt das Normale als das, was es ist: ein Muster, das weder einzigartig noch das einzig richtige ist. Was dabei wichtig ist: die Distanz. Wenn man zu nah ist, sieht man die Dinge zu wenig gut. Wie ein Maler, der ein paar Schritte zurücktreten muss, bevor er den nächsten Pinselstrich setzen kann.

Wie hast du diese Distanz in deinem Roman hergestellt?

Für mich war es von Anfang an klar, dass ich eine Ich-Erzählerin wollte. Aber das Publikum sollte spüren, dass nicht alles, was diese Erzählerin behauptet, wahr ist. Sie ist sich dessen bewusst, sie weiß, dass sie eine «unzuverlässige Erzählerin» ist, und so spielt sie mit dieser Frage der erzählerischen Verantwortung. Das war mir wichtig, denn ich habe in meiner Stadt Banja Luka zur Mehrheit gehört. Ich hatte eine glückliche Kindheit, ich habe keine Gräuel erlebt, und erst später habe ich mich gefragt, wie das wohl für die anderen war. Wie war es, in meiner Stadt zur muslimischen Minderheit zu gehören? Kann man das als eine Nicht-Betroffene verstehen? Vermutlich nicht. Aber vielleicht ist die Aufgabe der Literatur nicht, so etwas verständlich zu machen, sondern sich immer wieder darum zu bemühen.

Wird man als Schriftstellerin auf dem Balkan angefeindet, wenn man das «normale» Muster in Frage stellt? Mein Roman «Der Held» wird demnächst ins Kroatische übersetzt, und ich frage mich, ob das dortige Publikum mir dieses Buch auf eine Weise übelnehmen wird, wie es das Publikum hier niemals tun würde. Wie ist es dir damit gegangen?

Ich hatte mir in der Tat Sorgen gemacht, als ich in meiner Heimatstadt mein Buch vorstellen sollte. Aber dann musste ich feststellen, dass die Menschen dort einfach gleichgültig waren. Sie haben sich zu wenig für mein Buch interessiert, als dass sie es mir verübeln würden.

Am Ende fragt man sich, wie viel wir überhaupt erreichen können. Vielleicht müssen wir uns weniger um das Verständnis, dafür mehr um die Empathie bemühen. Indem wir erzählen, schaffen wir Erlebnisse, nicht Informationen. Vielleicht ist es das, worauf wir vertrauen müssen: Dass die Menschen durch das Erlebnis zur Erkenntnis gelangen werden.