2024 – Audiowalk
Dankes­rede

Stadtschreiberin von Bergen


Hessischer Rundfunk, 2015

 


Zeltreden – und zwischen den Reden Gespräche über Festtische hinweg, scheppernde Teller; die neue Stadtschreiberin, der neue Stadtschreiber wird aufgerufen, findet sich auf der Bühne am Stehpult wieder, hat nur noch das Mikrofon und die nun überhellen eigenen Textseiten vor sich; das Publikum ist durchs Scheinwerferlicht nicht wirklich zu erkennen, letzte Apfelweingläser, man hört einzelne Gabeln, es wird still. Laufender Flugbetrieb über der Messestadt. Die im Festzelt offen durchmischte Literaturwelt hat hier schon vieles erlebt in den vergangenen Jahrzehnten, und nur wenn eine Rede dichterisch überzeugt, Tiefenlinie sucht, wird es ruhig bleiben bis zum Schluss. Selbst das Besteck erliegt dann dem Gesagten.
Anfang September 2015 also wurde Ruth Schweikert zur 43. Stadtschreiberin von Bergen (in Frankfurt a. M.) gekürt und hielt im Festzelt ihre Antrittsrede; nach den Begrüssungsformeln setzte sie ein Frisch-Zitat als Tiefenanker, um weit ausholen zu können (Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen). Max Frisch hatte im September 1981 im vollen Zelt eine Rede auf Peter Bichsel gehalten, den 8. Stadtschreiber von Bergen.

Über Funktion und Wesen der plötzlichen, oft eruptiven Möglichkeitsraumauffaltungen in ihren Texten (nach bestgemessenen Indikativstrecken) habe ich mich immer wieder mit ihr ausgetauscht – den Schweikertschen Konjunktiv zwei, wie ich ihn genannt habe zu ihrer Erheiterung, verwendet als Intensivierungsstufe, Steigerungsform, zu mehreren, aufsteigend dann, oder schlundig hinunterziehend, in Kaskaden. Habe diese sprachliche Spezifität immer frei bestaunt, bin ihren Sätzen gefolgt bis zur Bruch- oder Sprungstelle, einem Komma –

als wären diese Menschen mehrjährige Pflanzen, die im Herbst eingehen, um im Frühjahr wieder auszutreiben.

als hätte sich die mütterliche Scham nicht nur fortgepflanzt, sondern durch das Verschweigen vervielfacht.                                       

Fahrtwinde, Rückenwind, Applaus im Zelt, es wäre ein Aufbruch gewesen und mitten in Deutschland, ein eigenes Haus mit eingefriedetem Hof für ein Jahr, ein grosser Baum vor dem Haus (Härtlings Ginkgo), der neue Verlag war in Frankfurt, der jüngste Sohn hätte in Bergen-Enkheim die Schule besucht, alles wäre so geplant gewesen –

oder ich stehe, wie zehn Tage zuvor, nachdem ich unter der Dusche auf der Innenseite der linken Brust einen erbsenartigen Knoten getastet habe, in der Küche des Stadtschreiberhäuschens von Bergen-Enkheim und drehe die Wasserhähne auf; es sprudelt, es prasselt, es dröhnt; wie lange dauert es, wie viele Sekunden, bis das Spülbecken überläuft. (aus Tage wie Hunde, Fischer Verlag, 2019)

3. Sept 2016, ein Jahr nach der Antrittsrede – wir reisen zu dritt nach Frankfurt, in Solothurn steigt Peter Bichsel zu; ich finde ein flüchtiges Foto auf meinem Telefon, die beiden Mitreisenden sind im leeren Bistro des ICEs von hinten zu sehen, Wahlverwandte, positionsähnlich (der Zweifel, der Zwiespalt als Position des Erzählens). Peter Bichsel steht an der Theke, besorgt uns Getränke, während Ruth am vorderen Ende der seitlichen Bistrobank sitzt, auf der Nutzplüschkante, das Laptop auf den Knien, in Fahrtrichtung schreibend an der bald vorzulesenden Abschiedsrede in ebendiesem Zelt, sie hat jetzt kurze Haare. Zwischen Offenburg und Mannheim liest sie uns am (vibrierenden) Bistrotischchen den Text vor, seitlich vorbeiziehend Bahngebüsch; sie nimmt, nachdem sämtliche Pläne durchkreuzt worden waren, eben wieder Fahrt auf, drei Jahre später wird ihr letztes Buch erscheinen – die ersten 20 Seiten über die vielleicht letzten Zigaretten gehören zu meinen Lieblingspassagen überhaupt.

*Kursiv gesetzt sind Zitate aus der Rede von Ruth Schweikert.