2023 – Shpresa Jashari
Staub

Sie liegt auf dem Boden, ihren Körper um den schweren, staubigen Arbeitsschuh des Vaters gerollt. Langsam gleitet die dichte Staubschicht davon ab, zusammen mit dem Tränenfilm.
Das Schwarz des Leders kommt hervor.
Es riecht nach Bajram.

*

Manchmal atmete sie ihn tief ein, wenn sie an einer Baustelle vorbeiging, diesen Staubgeruch. Heimlich, falls da noch andere Leute in der Nähe waren.

In ihrer Kindheit lag dieser Staub überall auf dem Vater, wenn er nach der Arbeit die steile, linoleumüberzogene Treppe zur Familienwohnung hochstieg. Auf der dunkelblauen Faserpelzjacke, die übersäht war von winzigen, darin festklebenden Zementkörnchen. Auf der Arbeitshose mit der länglichen Seitentasche, für den Klappmeter. Auf seinen Händen, die auch die ihren waren. Und auf seinem Gesicht. Dann bemerkte man plötzlich, dass er Wimpern hatte. Die waren schön, ganz zart, so
weiss bestäubt.
Hörte er auf zu lächeln, sah man kleine, dunkle Verzweigungen unter den Augen. Seine richtige Haut.

Wenn er am Bajramabend von der Baustelle nach Hause kam, schnürte er die Arbeitsschuhe flinker als sonst auf und verschwand gut gelaunt in der Dusche, ohne die Familie richtig zu begrüssen. Verbarg eilig die Bauarbeiterversion von sich vor den Augen der Kinder, wollte sie nicht gelten lassen am hohen Feiertag. Der für sie erst bei Abenddämmerung begann.

Zu dem Zeitpunkt war alles längst am Warten. Das Essen im Ofen. Der spiegelnde Glastisch im Wohnzimmer. Die Karamellbonbons in ihren goldglänzenden Hüllen. Und natürlich die drei Kinder, herausgeputzt und schon wieder zerknittert.

Die Angehörigen im anderen Land gratulierten einander in aller Frühe, gleich nach dem Moscheebesuch. Sie nahmen das Festessen vormittags ein und hatten die Kurzbesuche bei Verwandten und Freunden lange vor Einbruch der Dunkelheit hinter sich. Und dann am Abend, da war sie aber nur einmal dabei gewesen, sassen alle in gelöster Stimmung beisammen, Schulter an Schulter, scherzend, lachend, die Anrufe aus dem Ausland erwartend.

Das war die Zeit, in der das Fest bei ihnen an der Hauptstrasse 181 begann. Wenn der Vater endlich mit nassem Haar und frisch gebügeltem Hemd aus dem Bad hervortrat, sie und die Geschwister auf beide Wangen küsste. Ihnen lächelnd in die Augen blickte und ein frohes Fest wünschte. E gzofsh Bajramin! Dann assen sie zusammen, was die
Mutter Besonderes für sie gekocht hatte.
Meist klingelte der erste Besuch, kaum dass sie bei der Baklava angekommen waren. Und jedes Mal bekleckerte jemand von ihnen die schönen, nach Neu riechenden Kleider mit dem klebrigen Sherbet.

Das Aussuchen der Kleider für das Fest hatte sie fast so gern gehabt wie die Bajramtage selbst. Da war dieser eine Einkauf im C&A. Sie war 11 oder 12 Jahre alt. Dieses Gefühl, als sie das glänzende Tenue an einem der Drehständer entdeckte. Es
hing flachgedrückt zwischen all den anderen, nichtssagenden Kleidern. Ihre Lieblingsfarbe stach zwischen den senkrechten Stoffschichten hervor. Knisterte, in ihrem Augenwinkel. Und dann, als sie es herauszog… Sie hatte es kaum glauben
können.

Nach den Familienbesuchen hatte sie in jener Bajramnacht geborgen im dunklen Bauch des Autos gesessen und die ganze Heimfahrt über zugeschaut, wie ihr violetter Satinrock in regelmässigen Abständen hell aufschimmerte, wenn das Licht der
Strassenlaternen darüberstreifte.
Sie war eine Prinzessin gewesen, die nach dem Ball in den Palast zurückchauffiert wurde.
Oder ein Prinz.
Denn zu ihrem glockenförmigen Rock gehörte eine Anzugjacke im selben glänzendvioletten Satinstoff und darunter eine weisse Bluse. Oder ein Hemd. Oben um den Kragen dann die schmale, schwarze Krawatte.

Als sie den Anzug im Einkaufszentrum anprobiert hatte, waren die Stimmen der Eltern und der kleinen Geschwister bis vor den schweren Kabinenvorhang herangewabert, dann aber wieder abgezogen.
In der Stille der Kabine hatte sie lächelnd einen vornehmen Knicks gemacht, sich vor dem Spiegel um die eigene Achse gedreht. Der Rock war um ihre Beine herumgeschwungen.
Dann hatte sie ihren Oberkörper vorgeneigt, mit geraden Schultern. Wie Onkel Agim das immer getan hatte, wenn er anderen Männern eine Zigarette angeboten hatte. Die linke Hand flach auf die Brust gelegt, mit der rechten die geöffnete
Zigarettenschachtel hinstreckend, auf die er kurz zuvor draufgeschnippt hatte, um ein, zwei Zigaretten nach vorne zu rücken. Dazu dieser jungenhaft grinsende Mund, für einen Augenblick ernst.

Während des Bajrambesuchs in Basel hatte sie ihrer älteren Cousine Merita vorgeschwärmt, wie wunderbar das war, zugleich Prinz und Prinzessin zu sein. Doch die hatte gar nicht richtig hingehört. Nur lachend gestaunt. Du klingst ja voll
schweizermässig! Merita meinte das als Kompliment. Für ihren Dialekt.
Dabei hätte sie viel lieber wie die Cousine und deren Freundinnen aus der Stadt geredet. Wäre gerne wie sie leichtfüssig zwischen Deutsch und Albanisch hin- und hergeglitten. Unbeschwert über die Satzgrenzen hinweg und hinweg und tutje e tutje e hinweg e tutje und hinweg bis da keine Grenze mehr war.
Doch sie kannte die Gesetze nicht, nach denen man von der einen Sprache in die andere wechselte. Wo im Satz sprang man ab? Bei welchem Wort zurück? Wenn sie versuchte, so zu sprechen wie Merita, kam sie sich vor wie aus Holz. Eine Hochstaplerin. Ihr blieb nichts anderes übrig, als zu klingen wie immer. Wie eine halt, die gut ist in der Schule.

Als sie wieder zu Hause in der Hauptstrasse einfuhren, war es schon nach Mitternacht. Die Geschwister neben ihr schliefen. Die Mutter schaute mit zusammengezogenen Augenbrauen in die Nacht.
Schweigend und mit möglichst leisen Schritten stiegen sie Treppenlauf um Treppenlauf hoch, in ihre Wohnung im dritten Stock. Ihr Vater trug den schlafenden Bruder auf den Armen. Im langen, schwarzen Wollmantel und den glänzenden
Schuhen sah der Vater aus wie ein Mann aus einem dieser Schwarzweissfilme, die sie dann schaute, wenn sonst nichts lief.
Als ihr Gesicht auf Höhe der obersten Treppenstufe ankam, war es zuerst der erdige Staub, den sie roch, bevor sie die Arbeitsstiefel dort stehen sah. An ihrem Platz, zwischen dem Schrank mit den Sicherungskästen und dem kleinen roten
Plastikschemel. Auf den der Vater sich am nächsten Morgen hinhocken würde, um die schweren Halbstiefel wieder zuzuschnüren.

*

Noch immer hält sie einen davon fest umklammert, den rechten. Mit Händen, Armen, Beinen.
Streckt dann einen Arm suchend nach dem linken Stiefel aus, zieht auch ihn zu sich heran.
Sie beisst in das verhärtete, mürbe Leder.
Will hineinkriechen in die dunkle Kammer darunter.
Im Mund den Geschmack von Staub.