2021 – Marc Niedermann
Während draussen die Schatten kriechen

Dieser Moment, Lou: Es ist dunkel, du stehst in der Unterhose auf meinem Balkon, schaust mich an. Die Zigarette leuchtet glühend auf, dein Gesicht ist für einen kurzen Moment zu sehen, deine Augen, dein Mund. Ein Moment so unvergesslich wie der Blick, den er preisgab.
Heute ist vieles anders. Manchmal, in den ersten Stunden, als ich neben dir sass im Krankenhaus und du noch nicht wieder bei Bewusstsein warst, hatte ich das Gefühl, als bewege sich etwas unter deinen Lidern. Als wärst du wach und wolltest deine Augen bloss nicht öffnen. Wenn ich in deine geschlossenen Augen sah, glaubte ich zu spüren, wie du mich anstarrtest, dein Blick, kühl.
Der Abend, an dem du mich das letzte Mal angesehen hast, war, als Gian das erste Mal im Ausland spielte. Wir fuhren mit ihm nach Paris. Erinnerst du dich? Gebucht war er für ein Set von drei bis sechs Uhr morgens. Ich nahm den Stoff mit. Mit dem Zug ist das kein Problem. Die kleinen Plastikbeutel in einen Sack, zuschnüren und drei Abteile weiter vorne in den Abfalleimer legen. Nach seinem Set sind wir weitergezogen, zu einem der anderen DJs, in die Wohnung mit der steilen Treppe. Wir sitzen bei ihm auf dem Sofa. Vor uns zwei weisse Linien auf der schwarzen Tischplatte. Du sitzt neben mir, ich strecke dir die aufgerollte Note hin, du beugst dich vor, ziehst. Das Geräusch schneidet durch die Luft, schärfer als Klingen es könnten. Kurz darauf stehst du auf, verschwindest durch die Wohnzimmertür. Gian und der DJ sitzen neben mir auf dem Sofa und machen rum. An der Wand gegenüber stehen eine Frau und ein Typ, mit denen ich bisher nur ein paar Worte gewechselt habe. Sie diskutieren. Die Frau redet auf den Typen ein, ihre Augen weit aufgerissen, sein Kiefer mahlend wie eine Dampfmaschine, im Hintergrund wummert dumpf der Bass. Aftern: dasitzen, Fäden ziehen und beschissene Gespräche führen, während draussen langsam die Schatten zwischen den Häusern zurück in ihre Löcher kriechen.
Ich wusste damals schon, dass die Drogen, einmal in einen hineingelangt, nie mehr weggehen, dableiben, wenn auch nur als Echo. Was das bedeutet, wusste ich nicht. Ich wusste nicht, wie es sich anfühlt, wenn die Sucht, dieser Vielfrass, mit Koks und Keta genährt, feist und fett, sich in die Synapsen hineinfrisst, sich festsaugt und seine Metastasen im ganzen Körper verteilt. Heute werden sie an sonderbaren Orten sichtbar. Beim Essen zum Beispiel, da schlinge ich. Blindlings schlinge ich, stopfe in mich rein, ohne überhaupt darüber nachzudenken, was ich gerade esse. Die flüchtige Befriedigung dieses Schlingens und Schluckens ist dem chemischen Beissen, das einem nach einer Linie den Rachen hinunterkriecht, sehr ähnlich. Auch wenn ich rennen gehe, merke ich, wie die Sucht mich vor sich her peitscht, wie sie mich erst ruhen lässt, wenn ich mich benommen und keuchend an einer Strassenlaterne abstützen muss. So halte ich mein Gleichgewicht: Erst esse ich, bis ich kotze, dann renne ich, bis ich kotze.
Das erste Mal, als ich dir eine Linie gab, warst du achtzehn, ich noch nicht ganz. Die Stadt hatte viel zu bieten. Viele Ecken und Nischen, die man kennenlernen wollte. Kellerpartys und illegale Raves, Strassenfeste und Zwischennutzungen. Alles war neu, alles war spannend. Du sagtest mir, dass du niemals Ketamin nehmen wollest, das sei zu hart, das gehe zu weit. Das hast du auch nicht. Bis zu jenem Abend in Paris. Ich wusste nicht, dass das dicke, schwarze K auf dem kleinen Plastikbeutel nicht für Koks stand. Ich wusste es nicht. Zerstossen sehen die Keta-Kristalle aus wie Schnee. Ich machte zwei lange Linien, so lang, wie sie halt sein müssen um diese Uhrzeit, du zogst eine davon. Der Unterschied: die Dosierung.
Ich lehne mich zurück auf dem Sofa, du bist bereits aufgestanden, um die steile Treppe hinunter auf die Toilette zu gehen, dann merke ich, wie es mich durchströmt, dieses sanft lähmende, betäubende Gefühl in den Gliedern. Da fahren die anderen beiden auch schon hoch, aus ihrer Umschlingung, rennen aus dem Wohnzimmer. Gian kommt zurück. Er packt mich am Arm, ich schau ihm in die Augen, seine Lippen bewegen sich, sein Mund. Ich verstehe nicht, was er sagt, als stünde eine gläserne Wand zwischen uns, undurchdringbar und träge. Meine Resistenz war hoch, mein Körper kannte den Stoff, vertrug ihn. Deiner nicht. Gian gab mir einen Ruck, ich kam auf die Beine. Wir fanden dich, unterhalb der Treppe liegend, die Augen offen, deine Lider schlugen auf und ab. Dieser Rest von dir bewegte sich nicht.
Schnell war klar, dass du niemals wieder laufen wirst. Die Verletzung zu stark, die Wirbelsäule zu schwach. Das Rückenmark in Höhe des vierten Halswirbels zertrümmert, das gelähmte Zwerchfell nach oben gerutscht. Einen Wirbel weiter oben und du wärst auf der Stelle tot gewesen. Ob das besser gewesen wäre? Für mich ja. Für mich wäre es leichter gewesen, dich dort, unterhalb der Treppe liegend sterben zu sehen als in diesem Bett liegend von Maschinen beatmet. Zu sehen, wie du nur noch die Augen öffnest, um den Raum mit deinem Blick abzutasten, ist schlimmer als die Sucht, ist schlimmer als alles, was ich zu kennen glaube.
Lou, ich schreibe dir in der Hoffnung, diese Worte treiben sich in den Felsen zwischen uns. Spitzen sich hinein, wie die Wörter, die ich mit den Tasten meines Laptops meissle. Ich schreibe dir, weil du mich nie mehr angesehen hast. Du hast deinen Blick überall durch den Raum streifen lassen, nur nicht zu mir. Ich schreibe dir, weil ich das nicht ertragen konnte und du mich heute hassen musst. Du konntest mich nie anschreien, mir all das antun, was ich verdient hätte. Nicht mal aufschreiben konntest du es.