Lilli muss sich zuhinterst an die Wand des Klassenzimmers stellen. Sie soll laut und deutlich sagen, wie sie heisst, so dass es auch die Kinder in der vordersten Reihe hören können. Neben ihr steht Sepp. Auch er soll sagen, wie er heisst.
Ihr müsst die Leute beim Reden ansehen, sagt die Lehrerin. Schaut mich an und sagt, wie ihr heisst.
Wir wissen doch, wie die heissen, ruft der dicke Martin. Sepp und Lilli heissen sie.
Dich haben wir nicht gefragt, sagt die Lehrerin.
Lilli starrt den Boden an. Sie mag den Kopf nicht heben, und sie mag die Lehrerin nicht anschauen. Neben ihr steht Sepp, so nah neben Lilli, dass sie den Geruch nach Kühen und Mist wahrnehmen kann. Sepp muss immer schon am Morgen in den Stall, noch vor der Schule. Lilli wendet den Kopf ab und schnuppert am Kragen ihres flauschigen roten Pullovers, der nach Waschmittel riecht.
Beide schweigen. Die Lehrerin sagt, sie müssten lernen, lauter zu reden, und sie müssten lernen, den Leuten geradeheraus ins Gesicht zu sehen. Das sei wichtig im Leben. Doch Lilli bringt es nicht fertig, die Lehrerin anzuschauen. Sie bringt keinen Ton hervor. Die anderen Kinder scharren mit den Füssen, sie kichern und flüstern.
Ruhe, sagt die Lehrerin. Wir wollen Sepp und Lilli hören, nicht euch. Ihr seid schon laut genug, alle miteinander.
Ich heisse Sepp, murmelt Sepp schliesslich.
Lauter, sagt die Lehrerin.
Ich kann dich nicht verstehen.
Ich bin der Sepp.
Noch lauter.
Lilli schaut aus den Augenwinkeln zu ihm hin. Sepp ist rot geworden. Er sagt nichts mehr. Lilli sieht, wie er die Fäuste ballt.
Ich heisse Lilli, flüstert sie.
Lauter, sagt die Lehrerin. Und sieh mich an beim Reden.
Ich – heisse – Li-i-lli, krächzt sie. Bei ihrem Namen kippt ihr die Stimme.
Die Kinder lachen. Lilli bekommt einen heissen Kopf. Die Lehrerin sagt, es sei genug für heute.
Als Lilli am Mittag nach Hause kommt, sitzen alle schon am Tisch und essen. Der Vater fragt, was sie denn so lange herumgetrödelt habe, er müsse am Nachmittag schnell zurück ins Büro, das wisse sie doch, man könne nicht immer so lange auf sie warten mit dem Mittagessen. Lilli beeilt sich mit Händewaschen.
Als sie zurückkommt und sich an den Tisch setzt, erzählt der Vater gerade eine Geschichte aus dem Büro. Der neue Lehrling, der Stift, der könne nicht einmal Kaffee kochen. Er habe Nescafé in einen Filter getan, heisses Wasser darüber gegossen und sich nachher gewundert, dass im Filter nur etwas braune Farbe zurückgeblieben sei. Der Vater lacht laut über den ungeschickten Neuling. Die Geschichte werde der Stift noch oft zu hören bekommen, sagt er. Die Mutter lacht, ihr grosser Bruder This grinst, nur Lilli lacht nicht. Vielleicht hat sie einfach nicht verstanden, warum es so komisch ist, wenn nur etwas braune Farbe im Kaffeefilter zurückbleibt.
Vor allem, wenn Besuch da ist, erzählt der Vater oft lustige Geschichten, die sie nicht versteht. Dann lachen alle, und er erzählt gleich nochmals eine. Er hat eine laute Stimme, und alle hören ihm zu. Manchmal sagt die Mutter: Aber Schatz … Oder: Pa döwang lesangfang. Der Vater tut, als hätte er nichts gehört und redet einfach weiter. Wenn Lilli gross ist, will sie auch so witzige Geschichten erzählen. Vielleicht sagt jemand, Pa döwang lesangfang, doch dann tut sie so, als hätte sie nichts gehört und erzählt weiter, immer weiter, und noch eine Geschichte, und noch eine, und alle lachen.
Sepps Vater hat ebenfalls eine laute Stimme. Das hat die Lehrerin am Elternabend zur Mutter gesagt. Sie könne nicht verstehen, dass ausgerechnet Sepp und Lilli so leise reden, deren Väter so gewaltige Stimmen hätten. Gewaltig, hat sie gesagt. Gewaltige Stimmen. Die Mutter hat hinterher mit Lilli geschimpft und gesagt, dass sie sich jetzt wirklich Mühe geben müsse, in der Schule laut und deutlich zu sprechen. Aber Lilli hat nur das Wort gewaltig gehört, und es mit ihrer Zunge befühlt. Gewaltig, ge-waltig, ge-wal-tig, so ein schönes Wort, es fühlt sich an wie schwarzer Samt, es bewegt sich und schlägt Wellen, es stürzt wie ein Wasserfall über die Felsen, es tost und donnert. Gewaltig. Wenn Lilli gross ist, wird sie auch eine ge-wal-tige Stimme haben, so laut, dass sie selbst den Vater übertönt. Dann wird sie viele Geschichten erzählen, und alle müssen ihr zuhören, ob sie wollen oder nicht.
Ein warmer Herbstnachmittag, und Sepp und Lilli stehen wieder im Klassenzimmer, hinten an der Wand. Sie sollen mit lauter Stimme das Gedicht aufsagen, das sie zu Hause auswendig lernen mussten. Das Gedicht heisst «Die Vogelscheuche», und es ist von einem Herrn Morgenstern. Die Raben in dem Gedicht sagen Krah, krah, krah, und sie fürchten sich nicht. Sie wissen, dass die Vogelscheuche ihnen nichts tun kann, weil sie ja nur ein Stock ist, mit ein paar alten Kleidern und einem Hut obendrauf. Sie sind klug, die Raben. Sie gehören zu den Singvögeln, hat die Lehrerin gesagt, auch wenn ihr Krah, krah für die Menschen nicht nach Gesang klingt, sondern nach Gekrächze.
Lilli kriegt keinen Ton heraus. Da hinten an der Wand bringt sie nicht einmal ein Krächzen zustande. Dabei würde sie das Gedicht gern aufsagen, es gefällt ihr, und sie kann es ganz auswendig. Und ausserdem wüssten dann alle, dass sie klüger ist als Sepp, auch wenn sie immer neben ihm stehen muss, da hinten an der Wand. Sepp kann keine Gedichte im Kopf behalten. Sie holt tief Luft. Auf einmal weiss sie, dass es geht. Sogar, wenn sie da hinten an der Wand stehen muss. Sie macht den Mund auf.
Da klopft es an die Tür. Der Rektor holt die Lehrerin ans Telefon, es sei dringend. Die Kinder schauen einander erschrocken an. Der Rektor kommt sonst nie ins Klassenzimmer, nie. Die Lehrerin holt Sepp, sie geht mit ihm auf den Gang hinaus. Lilli darf sich setzen. Was der wohl wieder angestellt hat, sagt der dicke Martin. Die Kinder kichern. Die Lehrerin kommt zurück, ohne Sepp. Schlagt das Lesebuch auf, sagt sie, auf Seite einundzwanzig. Lilli ist enttäuscht. Sie hätte das Gedicht jetzt auswendig aufsagen mögen, sie hätte es gekonnt. Die Lehrerin hätte sie gelobt.
Sepp kommt nicht in die Schule zurück, auch am nächsten Tag nicht. Am Nachmittag klopft es an die Tür. Der Rektor kommt ins Klassenzimmer. Das tut er sonst nie. Nie.
Am Freitag ist die Beerdigung, sagt er. Um zwei Uhr nachmittags. Ihr bekommt schulfrei, damit ihr hingehen könnt. Wir versammeln uns um viertel vor zwei vor der Kirche. Hans ist gestorben, Sepps kleiner Bruder.
Der Rektor sagt nicht, dass der kleine Hans in einem Fuchsbau erstickt ist. Das erzählt erst Lillis Vater, am Abend, zuhause. Die Eltern hätten Sepp aus der Schule geholt, um den Kleinen zu suchen, als der auf einmal verschwunden war und sie ihn nicht mehr finden konnten. Sepp kennt ja all die Plätze im Wald, wo die Buben immer spielen. Und Sepp hat ihn gefunden. Hans war kopfvoran in einen Fuchsbau gekrochen. Vielleicht ist der Fuchsbau eingebrochen, als er sich zu befreien versuchte, das weiss Lillis Vater nicht so genau. Jedenfalls blieb der kleine Bub stecken, mit dem Kopf unter der Erde, und irgendwann ging ihm die Luft aus.
Lillis Vater sagt leise, dass es dem Vater der beiden Buben die Stimme verschlagen habe. Der bringe keinen Ton mehr heraus, seit sie Hans aus dem Fuchsbau holen mussten. Die Stimme verschlagen, denkt Lilli. Zerschlagen, kaputt. Sie stellt sich eine grosse Glocke vor, mit einem Sprung darin, von zuoberst bis zuunterst. Der hat es die Glockenstimme verschlagen, die klingt nicht mehr. Fest an die Glocke denken, sagt sich Lilli. Oder an das Wort gewaltig. Oder an die Raben und die Vogelscheuche, an die alten Kleider am Stock, ein altes Brillengestell auf einem ausgestopften Sack, der als Kopf dient, obendrauf der zerbeulte Hut. Nur nicht daran denken, wie es ist, in einem Fuchsbau stecken zu bleiben. Kopfvoran im Dunkeln, bis einem die Luft ausgeht.
Sie schliesst ganz fest die Augen und hält sich die Ohren zu. Der Klang der gesprungenen Glocke rauscht und tobt durch ihren Kopf. Sie beginnt, dagegen anzureden. Krah, krah, krah, singt sie. Sie holt tief Luft. Wir fürchten uns nicht, ruft sie laut mit den Raben, wir fürchten uns nicht, und sie hält dem gewaltigen Tosen stand.