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2022 – Martina Clavadetscher
Ich bin es nicht

Nein, ich bin es nicht.
Mich gäbe es sowieso besser gar nicht,
wünschte ich mir oft, wenn meine Mutter lauthals durchs Haus rief:
Maria, schau bitte nach den Kleinen.
Johannes und Franciscus sollen nicht zu weit weg. Nicht dass sie wieder an die Grachten oderbis zum Stadthuis gehen,
donnerte sie bis in die oberen Stockwerke. Ich versuchte, ihrem Schall auszuweichen, indem ich zwischen den Staffeleien verschwand. Ihre Stimme war den Umständen zum Trotz immer voluminös, als könnte man den runden Bauch mithören. Sie war fast immer schwanger.
Catharina, sie ist bei mir im Arbeitszimmer,
verriet mich mein Vater jedes Mal und schickte seinerseits einen entschuldigenden Blick hinter der Leinwand hervor. Also legte ich mein Werkzeug weg und machte mich auf die Suche nach meinen Geschwistern, als sei das meine einzige Aufgabe. Für die Kunstgeschichte bin ich sowieso bloß. eine Nebenfigur oder gelte nur als eine Charakterstudie, ein erfundenes Gesicht. Und doch glauben so viele, mich zu kennen.
Maria, sei eine gute Schwester,
flehte meine Mutter aus dem Wochenbett,
nimm Cornelia, Elisabeth und Aleydis gleich mit zum Markt, und schau, ob der Händler de Vries neue Matjes in Salzlake hat.
Ich war vor allem die älteste Schwester, die älteste Tochter der Familie Ver Meer aus Delft, obwohl ich gewiss mehr hätte sein können, wenn mich Mutter und Vater gelassen oder die Umstände es zugelassen hätten. Ich war sicher keine untalentierte Frau, keine arme Dirne, kein bezahltes Model aus Rotterdam, aus Delftshaven, keine Grit, keine Magd, keine Dienstbotin, nein, aber ich war in dieser Großfamilie gefangen. Und wenn hier nicht gerade gestorben wurde, was bei so vielen Geburten eben vorkam, herrschte bei uns in der Oude Langendijk durchaus viel Leben.
Umso mehr genoss ich die stilleren Nachmittage bei Vater im Arbeitszimmer, wenn er mich skizzierte, wenn er sorgsam die optischen Instrumente aufbaute, mir die Tücken der Camera Obscura erklärte oder gewisse Mischtechniken vorführte. Am liebsten aber schlich ich mich allein ins Atelier, um an meinen Bildern zu arbeiten; ich wollte mich verbessern, aber Vaters Vorlagen waren schwer zu erreichen, obschon mir das Mädchen mit Gitarre ganz gut gelungen war.
Maria, du wirst immer besser,
staunte mein Vater, als ich gerade mal elf Jahre alt war und ihm ein fertiges Gemälde vors Gesicht hielt. Ich kostete sein Lob aus, sein Lob hatte für mich den größten Wert, weil ich wusste, dass die Kunsthändler für Frauenwerke weniger oder gar nichts bezahlten. Aber ich malte schließlich aus Freude, und so blieb ich
eine Leerstelle.
Meinetwegen sollte es mich nur als Geheimnis geben.
Kinder, mit Speck fängt man Mäuse,
begann mein Vater,
und mit Geheimnissen verkauft man Bilder, erklärte er uns nach jedem abgeschlossenen Handel. Alle einflussreichen Käufer der Niederlande kannten den schlauen Kunsthändler Joannis Ver Meer in Delft, genau wie alle zuvor schon meinen geschäftstüchtigen Großvater gekannt hatten.
Ein Bild muss den Blick fesseln, ihn festhalten
wie ein Magnet,
flüsterte Vater seinen Kunden ins Ohr, wenn sie bei uns in der Oude Langendijk im Erdgeschoss herumstanden und die neu eingetroffenen Werke an den Wänden betrachteten. Bewusst beiläufig zeigte Vater dann auf eine Leinwand, ging einen Schritt zur Seite, gab dem Bild genügend Raum, während er den interessierten Käufern ganz im Vertrauen erzählte, welch abenteuerliche Reise das Bild hinter sich hatte.
Es hätte den Transport aus Venedig fast nicht geschafft,
schwindelte er verheißungsvoll,
das Fuhrwerk, ein Radbruch vor Rotterdam, Wegelagerer, Diebe aus dem Hinterhalt.
Er schüttelte den Kopf und zeigte auf ein anderes Werk.
Und das hier, überhaupt ein einziger Skandal, der Künstler wollte sein Werk doch tatsächlich zurück, wegen jener Sache mit dieser Frau auf dem Bild da,
dann senkte er voller Scham seine Stimme und schickte mich gespielt aus dem Zimmer, da das Folgende nicht für die Ohren eines jungen Mädchens gedacht sei.
Es funktionierte immer.
Ein Bild ist stets mehr als seine Farben, mehr als die Leinwand und das abgebildete Objekt,
erklärte Vater am Esstisch vor versammelter Familie und reichte dabei seiner Catharina die Pellkartoffeln zu den geliebten Matjes.
Ein Bild ist auch seine Entstehung, es beginnt erst durch seine Geschichte zu leben,
schwärmte er weiter.
Erzähl oder erfinde im Notfall eine spannende Lüge dazu.
Aber lass dem Meisterwerk immer ein ungelüftetes Geheimnis.
So verkauft man Bilder, jeder Händler und jeder in der St. Lukas Gilde wusste das.
Auch die älteste Tochter eines Kunsthändlers musste das wissen, denn das Geld wurde immer knapper. Als der französische König Ludwig den Befehl gab, die Vereinigten Niederlanden anzugreifen, wurde alles noch schlimmer. Vater nahm während des Krieges etliche Kredite auf, wurde blasser und dünner, und selbst über meine Hochzeit mit dem Seidenhändler Cramer konnte er sich kaum freuen. Ein Jahr später, im Dezember, schaffte er es eines Morgens nicht mehr aus dem Bett, und nach nur wenigen Tagen wurde es im sonst so lebhaften Haus in der Oude Langendijk plötzlich sehr still.
Vater hinterließ eine schmerzhafte Lücke und Geldprobleme, die ich nur mit dem Talent und dem Händlerwissen der Ver Meers lösen konnte.
Gibt es denn noch mehr Bilder von Joannis Ver Meer?,
fragten die Gläubiger, die in unserem Wohnzimmer ungeduldig von einem Fuß auf den anderen traten. Der Krieg hatte auch ihre sicheren Geschäfte ruiniert.
Ja, die gibt es,
antworteten wir und holten einige meiner Werke hervor, die ich über die Jahre im Arbeitszimmer gelagert hatte. Erfreulicherweise hatte Vater nie alle seine Gemälde signiert – und wenn, dann immer anders.
Und wer ist dieses Mädchen mit der Perle?,
fragten die Kunden weiter, also entwarfen wir weitere Geheimnisse.
Das wissen wir auch nicht genau,
sagte ich, ohne zu zögern.
Aber ich habe da so meine Vermutungen, ergänzte ich und wechselte wie gelernt in ein Flüstern, da – wie ich andeutete – die Witwe Catharina und die
Kleinsten der Familie Ver Meer besser nichts davon mitbekommen sollten – über diese Frau auf dem Bild.
Nein, ich bin es nicht.
Ich dürfte es auch gar nicht sein.
Würde beispielsweise ein spitzfindiger Kunstprüfer, so wie mein Vater es einmal war, mit einer neuen Theorie daherkommen und das ganze Mysterium um diese Figur mit dem Perlenohrring entschlüsseln: Niemand würde das wollen!
Ist das Rätsel gelöst, verschwindet der Zauber.
Und der Marktwert sinkt.
Dasselbe gilt, wenn sich herausstellte, dass im Haushalt der Ver Meers noch jemand gemalt hatte – zur gleichen Zeit, in ähnlichem Stil, mindestens fünf bis sechs Ölgemälde. Glücklicherweise gibt es von Vater keine Notizen oder Briefe oder Tagebucheinträge, die irgendetwas bezeugen könnten.
Nein, die Tochter darf hier keine offensichtliche Rolle spielen. Wir haben schließlich an die Sammler und an den Markt zu denken.
Gewisse Geheimnisse müssen Geheimnisse bleiben; der Geschichte zuliebe.
Wie hatte es Vater uns Kindern eingebläut?
Es ist immer die Geschichte, die den Wert ausmacht.
Das Mädchen mit dem Perlohrring ist eine bis anhin unbekannte junge Frau.
Lassen wir es doch dabei.
Das Mysterium bestimmt den Preis. Nur das zählt.

aus: Martina Clavadetscher: Vor aller Augen
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