2024 – Noreen Sheikh
Eintauchen

Eintauchen
Noreen Sheikh

Das erste Mal war eine Notwendigkeit. Eine Sache, die man abhakte oder durchstrich, wie das Brot auf der Einkaufsliste. Ich weiss nicht einmal mehr, ob seine Haare braun oder blond, seine Haut rau oder weich, seine Schultern breit oder schmal waren. Nichts davon prägte ich mir ein, nichts davon war relevant. Ich sah ihn, und wusste, heute wird es erledigt. Er war weder der Richtige noch der Falsche. Er war da und das reichte. Es war einfach, kinderleicht sogar. Wir kannten uns nicht. Ich weiss nicht mehr, was ich sagte. Ich weiss bloss, dass ich ihn ohne Umschweife gefragt hatte.

Als ich dalag, streifte mein Blick durch den Raum und blieb an einem Poster hängen. Ein Surfer ritt eine sich brechende Welle. Das türkisfarbene Blau weckte eine Erinnerung.

Glitzerndes, helles Blau. Ich hörte Plätschern, Quieken und Schreien. Roch Chlor, fühlte Beton unter den Füssen. Schaute an einem grauen Turm hoch. Hörte meinen Namen rufen. Sah meinen Vater, der am Beckenrand stand. Braungebrannt, die Hand schützend über den Augen. Er nickte energisch, lachte. «Du schaffst das.»

Ich trug meinen Lieblingsbadeanzug. Mit Rüschen und Punkten. Ich sah den Turm hoch, Wasser tropfte auf mein Gesicht. Vater winkte mir zu. Ich griff nach der Leiter. Das Metall war warm. Setzte einen Fuss nach dem anderen. Kletterte hinauf. Ich warf ihm einen Blick zu. Er reckte beide Daumen hoch. Obwohl mein Magen flau war, lächelte ich ihm zu. Er steckte zwei Finger in den Mund, pfiff. Unser Ding. Ich lachte. Sah, wie er breitbeinig dastand und zufrieden die Arme in die Seiten stemmte. Auf einmal veränderte sich die Farbe seiner Füsse. Kaum merklich zuerst, nur an den Zehen. Ein dunkles Blau verteilte sich wie Efeu, kletterte über den Rist, schlängelte sich über das Sprunggelenk.

Ich zuckte zusammen, schaute wieder auf das Poster, die brechende Welle.

«Alles klar bei dir?»

Der Unbekannte drehte sich auf den Rücken, suchte Zigaretten.
Ich lag da wie zu Beginn und am Ende. Und mittendrin.
Er zündete die Zigarette an.

«I’ m so blue», sagte ich.

Er stutzte, setzte sich auf.

«Was meinst du?»

Ich stützte mich auf die Unterarme.

«Hat es dir nicht gefallen?»

Ich legte mich wieder hin, schüttelte den Kopf. Nahm eine Zigarette aus der Schachtel.

«Doch.»

 

So wie ich den Ersten abgehakt hatte, tat ich es bei den anderen. Meine Sammlung erfüllte mich weder mit Stolz noch mit Zufriedenheit. Ich jagte nach etwas Vertrautem. Einem Duft. Dem Klang einer Stimme. Der starken Schulter.

In den Nächten stieg ich den grauen Turm hoch, versuchte bis ganz nach oben zu gelangen. Je höher ich hinaufkletterte, desto heftiger zitterte mein Körper. Ich wagte kaum, meinen Vater anzusehen. Von Nacht zu Nacht schlängelte sich das dunkle Blau an den Unterschenkeln hoch, über Knie und Oberschenkel.

Ich stürzte mich in die Jagd, fand sie auf der Strasse, im Supermarkt, im Wald mit ihren Hunden. Ersetzte Gleichaltrige durch Reifere. Ich suchte bei ihnen, was die Jüngeren mir nicht geben konnten. Wurde enttäuscht und wandelte weiter rastlos durch die Nächte. Das dunkle Blau eroberte unaufhaltsam den Körper meines Vaters, während es um ihn herum plätscherte, quiekte und kreischte.

Dann traf ich ihn. In einer Bar im Fumoir, eingehüllt in Rauch. Er erkannte mich und ich ihn. Der Vater meiner Schulfreundin. Ich sprach mit ihm. Bildete richtige Sätze mit Anfängen und Enden und Mittelteilen. Fragte und antwortete. Es fielen Sätze wie: «Es tut mir leid, das mit …», die ich unterbrach. Sätze, die ich zuliess wie: «Ich mochte dich schon immer am meisten.»
Etwas Vertrautes ging von ihm aus.

«Wie geht es dir?»

«I feel blue.»

Er nahm mich in den Arm – und ich löste mich auf.

Ich schaffte es, auf den Turm zu steigen. Meine Füsse fühlten die Hitze der Betonplattform. Unter mir glitzerndes Blau. Am Beckenrand mein Vater, bis zu den Schultern dunkelblau. «Spring!» Ich fuhr zusammen. Es war kein Rufen, sondern ein Flüstern, das sich durch das Plätschern, Quieken und Jauchzen bahnte.

War ich bei ihm, zog er mich an sich, umschloss mich mit Armen und Beinen, wie ein Oktopus, der sich mit seinen Saugnäpfen festklebte. «Du hast geträumt», flüsterte er. Sein Flüstern war fremd und doch vertraut.

Abermals stand ich auf dem Turm. Das Flüstern schlug in Rufen um.

Ich schrie, und der Oktopus legte seine Tentakeln um mich.

Das dunkle Blau verfolgte mich bis in den Tag hinein. Zerrte an jeder Zelle, frass ein Loch in meinen Magen und kroch die Speiseröhre hoch

Ich gab auf, liess die Erinnerung an die Oberfläche kommen.

Ich betrete das Haus. Rufe laut hallo. Stille. Ich denke, dass er krank im Bett liegt und schläft. Gehe ins Schlafzimmer. Wundere mich über das aufgeräumte Zimmer, das gemachte Bett. Gehe durch die anderen Räume und finde niemanden. Habe ein ungutes Gefühl und steige zum letzten Raum hoch. Lege meine Hand auf die Klinke – und öffne die Tür, die das Dunkle verborgen hielt. Das nun einem Mädchen gewaltsam alles Jugendliche entreisst.

 

Nackte, dunkle Füsse.

Baumelnd.

Eine gestreifte Pyjamahose.

Verfärbte Hände.

Ein löchriges T-Shirt.

Der lange Hals.

Das dünne Seil, das ein dunkles Mal hinterlässt.

Die halb geöffneten Augen.

Die Zunge.

Die Zunge, die bizarr aus dem Mund quillt.

Das bläuliche Gesicht.

 

«Nadine, spring.»

Ich sehe die braungebrannten Füsse meines Vaters. Sein Lachen. Trete ans Ende der Plattform, wippe auf dem weissen Sprungbrett. Unter mir helles, glitzerndes Blau. Am Beckenrand mein Vater. Das dunkle Blau schlägt bereits Ranken in sein Gesicht.

Ich springe. Tauche ins Blau. In die Stille, die so laut ist, dass ich sie kaum ertrage.