2020 – Jagoda Šimac Despotović
Das Dornental

Ausschnitte aus dem Roman „Dolina trnja“ (2020)

Deutsche Übersetzung: Jelica Popović

Die Trnpolje-Schlucht lag unter einem Bergrücken, kaum zehn Flügelschläge einer Möwe vom Meer entfernt. Durch diese Schlucht wand sich ein Weg, der über terrassenartige, durch Trockenmauern gesäumte Felder führte. Ordentlich nebeneinandergelegt, eingewoben, wie die ungleichen, bunten Streifen eines antiken Wollteppichs, dabei folgten sie dem Lauf eines ruhigen Flüsschens, ähnlich dem sommerlichen Morgenrot, diesem reinen, luftigen, seit jeher unversiegbaren Jungbrunnen. Das wundervolle Tal vor Milas Augen, das sie und ihr verstorbener Mann so sehr liebten, war abgeschirmt durchs Gebirge, geschützt vor allem Bösen und dem Übel der Welt. Seit jeher verteidigte, sorgte und schützte es sich selbst. Es war schon immer verlassen, ja, dennoch war es eigenständig und einträchtig. Den rechtschaffenen und tüchtigen Menschen war es ein Geschenk von Mutter Natur. Diese Menschen duldeten kein Joch und verweigerten Unterwerfung. Auch Fremde, das lästige Übel, wie Petar oft stolz zu sagen pflegte, schafften es nicht, sie im Laufe der Geschichte zu unterwerfen, genau deshalb wurden sie von Fremden geschätzt und pflegten mit ihnen nachbarschaftliche Beziehungen. Sie mussten auch keinerlei Steuern entrichten in ihrem Tal der Gerechtigkeit, sie ernannten selbstständig ihre Pastoren und Oberhäupter. Nur ungern gingen sie zum Wehrdienst ins Binnenland oder zu den Matrosen, bei Bedarf waren alle rasch bewaffnet. Für sie sprach nur schon das Aussehen ihrer Gegend und die Lebensart: Es gab auf der Welt nichts, was gehegter und grüner war als ihre Felder, nichts rechtschaffener und ordentlicher als ihre Häuser und nichts gerechter und einträchtiger als ihr gegenseitiger Umgang. Auf dem wellig gebirgigen Karst, von dem aus der Blick auf die sonnige Meeresküste fiel, weideten Ziegen- und Schafherden. Grün leuchteten bebaute Weinberge und Olivenhaine, zwischen denen verstreut die Höfe kauerten; kleine Steinhäuser vereinzelter Weiler, von Steinmauern umzäunt. Schon im Morgengrauen bezwangen einst schwielige Bauernhände ihrer Ahnen das Gestein, damit sie heute aus der angehäuften, kostbaren Erde Rebstöcke und Olivensprösslinge, Feigen und Mandeln ziehen konnten.

Diesem gottgegebenen Paradies erwuchsen gesunde und fröhliche Kinder, wie Petar seine Mitbürger zu preisen pflegte. Sonnengenährt und durch den Schweiß der kargen Erde getränkt, entwuchsen aus dieser Erde seit jeher kühne Männer. Dem Gestein, dem Meer und der Sonne ähnlich. Sie bestellten die Erde, züchteten Schafe und Ziegen, schützen sie vor hungrigen Wölfen und listigen Dieben. Oder schifften, handelten mit Wein, Olivenöl und Heilpflanzen. Heute waren sie erfolgreiche Geschäftsmänner, genossen Ansehen und belegten wichtige Posten. Die Frauen waren seit jeher großgewachsen, schlank und wunderschön, mit aufrechtem, stolzem Gang, das Haar nach Strohblumen und Basilikum duftend. Auch heute waren sie modisch gekleidet, sonnengebräunt, mit einem verführerischen Lächeln und offenem, langem Haar.

Mila Glavan fuhr langsam an den Feldern vorbei die enge geteerte Straße hinauf. Durch das offene Fenster betrachtete sie das üppige Grün und den schlangenförmigen Glanz des Flusses, auf den ihr Mann so stolz war. An das Gestein, die Karstmulden und Engtäler gewöhnt, zerstreuten sich die Einheimischen, Mäher und Kräutersammler über die Felder. Zu hören waren Rufe und das Rasseln von Säbeln, Scheren und Messern, das Brummen von Traktoren und Maschinen, mit deren Hilfe sie Salbei, Basilikum und Strohblumen ernteten. Die Traubenlese, diese Schwerarbeit, hallte in der wohltuenden Geselligkeit, dem betörenden Kräuterduft wider, der für einen Augenblick ihre Seele erquickte. Wenn die Zinnie sich der Basilie erbarmt… Weder Zinnie noch Basilie, es ist des Mädchens Seele, die duftet… Gesang vermochte Schweiß und Müdigkeit zu vertreiben. Das erinnerte sie an die Szene aus einem alten Heimatfilm, den sie und Petar gemeinsam gesehen hatten. Genau wie in diesem Film damals, ergoss sich der heutige Julisonnenuntergang im Zauber des Abendrots und strahlte tiefen Seelenfrieden aus. Die Wärme des Sonnenuntergangs und sein satter Blütenduft rührten die Seelen und entspannten durch Jugenderinnerungen, erweckten einstige Sehnsüchte und Verliebtheit, brachten das Blut ins Wallen, luden ein zu Treffen und Liebschaften im Unterholz am kleinen Fluss. Aber all ihre für einen kurzen Augenblick entfachten Gefühle wurden von beklemmender Leere und von Trauer überdeckt, Milas Augen glänzten tränenerfüllt. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass es ihn nicht mehr gab und dass ihre gemeinsame Lebensfreude der Vergangenheit angehörte. Hätte er nur etwas weniger gearbeitet und hätten wir nur die verlorene Zeit durch seine Arbeit, seine Sitzungen und Geschäftsreisen liebend verbracht … Ach! Erst wenn sich uns der Tod als Wirklichkeit zeigt, … wenn diese entsetzliche Leere zu schmerzen beginnt, begreifen wir, dass das Leben bloß eine Flucht vor der Einsamkeit ist. Mit geistigen und physischen Fühlern schmiegten wir uns an geliebte Wesen, bis das Schicksal sie uns davonträgt und die Trauer ihren Platz einnimmt. Der Mensch wird allein geboren und stirbt allein, und zuerst muss er so zu leben lernen. Denn erst wenn wir den Lebenspartner verliere, wird uns klar, dass uns genau diese eigene Ureinsamkeit am schwersten fällt.

Ihre Tochter war jung, im Herbst hatte sie ihr zweites Studienjahr der Rechtswissenschaften begonnen, und sie stand an der Schwelle zur Eigenständigkeit… Mila dachte in Dankbarkeit an sie, sie war ihr größter Trost. Sie nahm die Tochter weder auf den Friedhof mit, noch wollte sie sie mit ihrer Trauer belasten. Sie hatte ihren Vater verloren und brauchte Zeit, sich in Ruhe von ihm zu verabschieden, auf ihre jugendhafte Art. Jedenfalls stützen sie sich gegenseitig, und um die materielle Zukunft mussten sie sich nicht sorgen. Petar war Mehrheitsbesitzer und Vorsitzender eines erfolgreichen Bauunternehmens gewesen. Er hatte eine luxuriöse Wohnung in Split, eine Villa auf Pag, eine Yacht und ein beachtliches Bankkonto hinterlassen. Seit die Tochter das Gymnasium abgeschlossen hatte, half Mila der Schwiegermutter in ihrer privaten Kräuterapotheke in Split, erlernte die Buchführung, dass sie langsam, aber sicher schon vor deren Pensionierung die Arbeit übernehmen konnte. Im Unterschied zur geschäftigen Schwiegermutter, Magister der Pharmazie, die auf eine langjährige Erfahrung in einer der angesehensten Apotheken von Split zurückblickte, hatte Mila einen Abschluss in Archäologie und hatte vor der Heirat knapp zwei Jahre im städtischen archäologischen Museum gearbeitet.

Auf den Feldern mähten die Traktoren und die Pflücker ernteten unermüdlich. So als hätte ihnen das gelbe, berauschende Kraut den Krieg erklärt und als ob sie diesen Krieg um jeden Preis schnellstmöglich beenden wollten. Nach ihrem kleinen roten Peugeot drehten sie allerdings neugierig die Köpfe. Sich zu fragen, wem der gehörte, war unnötig. Petars Witwe fuhr auch heute, zwei Wochen nach seiner Beerdigung, zu ihm auf den Friedhof, um ein wenig Trost zu finden, mit ihm zu sprechen. Nach seinem schwarzen, luxuriösen BMW, von dem bloß die zertrümmerte Karosserie übrig geblieben war, wird sich nie mehr jemand umdrehen, dachte sie schwer atmend. Während sie die Pflücker im Rückspiegel betrachtete, bemerkte Mila, dass diejenigen jungen Männer, die in Dreiergruppen von Hand pflückten, die anderen um gut eine Reihe überholt hatten. Erneut entsann sie sich der romantischen Filmszenen, in denen junge Frauen gebückt Büschel banden und die Burschen ihnen dreist in die verschwitzen Ausschnitte blickten. Die Frauen konterten in gleichem Maß; ihre Blicke liebkosten die nackten, männlichen, muskulösen, sonnenbestrahlten und verschwitzten Oberkörper. Die Erinnerung an spontane Verführungen in der arglosen Jugend, entlockte ihr ein trauriges Lächeln und einen tiefen Seufzer. Sie vermisste ihn schmerzlich. Besonders jetzt, während sie durch diese Gegend fuhr, in Richtung des alten Anwesens seiner Familie, das er von allem, was er im Leben errungen hatte, am meisten liebte. Das war der einzige Ort, an dem er, wie er ihr oft gesagt hatte, er selbst war. Sie hingegen fühlte sich in der Stadt freier. Der Ruhe und der bezaubernden Schönheit der Natur zum Trotz. Hier wusste jeder alles über den anderen, keiner hatte eine Privatsphäre. Das sind unsere Angelegenheiten und alles bleibt unter uns, waren die Aussprüche, die alle großspurig äußerten, und das Verwunderliche daran war, dass sie sich entsprechend hartnäckig daran hielten. Petar hatte das alte Anwesen seiner Familie renoviert und dort seine Geschäftspartner empfangen. Im Weinkeller wurden lukrative Verträge abgeschlossen zu hausgemachtem Wein und Fleisch vom Grill. Sie hatte sich in die Geschäfte ihres Mannes nicht eingemischt, und so war sie bei diesen Abenden nach typisch männlichem Geschmack und den Besprechungen nie zugegen gewesen. Im Gegensatz dazu lebte seine Mutter, die um keinen Preis in die Stadt ziehen wollte, auf dem Anwesen. Sie fuhr Auto, jeden Tag pendelte sie in die Stadt zur Arbeit.

Mila bog von der Hauptstraße ab, sie fuhr oberhalb der Felder und Häuser auf dem geteerten Weg in Richtung Felswand weiter, zum Friedhof und der neuen Dorfkirche, die einem König gleich über dem Dorf thronte. Der Serpentinenweg führte sie hinauf zu einem kleineren Parkplatz am Rande der Steinmauer. Der Parkplatz war leer, sie stellte den Wagen mit gutem Gewissen auf zwei Parkfeldern ab. Sie dachte, dass um diese Tageszeit sowieso keiner zur Kirche wollte. Aus dem Wagen holte sie Blumen und eine Tüte, in der sich eine Wasserflasche und eine Kerze befanden. Mit dem Strauß und der Tüte in der Hand, trat sie durchs schwere Gittertor ein und verschwand im Schatten einer hohen Zypresse und großer Marmorgrabsteine. Ein schmaler Kiesweg führte sie zur prunkvollen Grabstätte aus schwarzem Marmor. Das Grab war überladen mit verwelkten Kränzen und Blumen, umsäumt von Buchsgrün, Jasmin und Rosenbüschen. Auf der linken und rechten Seite des Grabsteins, in dessen Mitte sich ein Kreuz mit eingemeißelten Namen und Geburts- und Sterbedaten der Begrabenen befand, knieten zwei marmorne Engel in der Größe eines zweijährigen Kindes. Aus der Marmorvase, die neben dem Foto ihres Mannes stand, nahm Mila die kaum zwei Tage alten Blumen heraus und legte neue ins frische Wasser. Sie beseitigte die heruntergebrannte Kerze und zündete eine neue an, um sich danach ins Gebet zu vertiefen. Während sie in Gedanken zu ihm sprach, zählte sie mit Bedauern alles Versäumte auf. Sie gestand ihm das Leid über den nicht verschmerzten Verlust. Die schreckliche Leere, die er hinterlassen hatte, erfüllte sie mit Selbstmitleid. Mitten im Gespräch, als breche plötzlich und unerwartet ein schwerer Schatten über sie herein, erfüllten sie Grauen und Angst und drückten sie nieder.

– Die Kränze und Blumen von der Beerdigung sind vertrocknet.

Die ruhige, aber klare, ungewöhnlich angenehme Stimme des alten grauhaarigen Mannes, der zwei Schritte hinter ihr in schwarzem Hemd und Kollar stand, durchzuckte und erschreckte sie zugleich.

– O, Don Jozo! Haben Sie mich erschreckt!

– Entschuldige. – Seine eingefallenen, starren Augen erforschen ihr blasses Gesicht.

Er war etwas gebückt, obwohl er einen Kopf grösser war als sie. Er war schlank und hatte ein erhabenes Mal auf dem linken Nasenflügel. Dem Aussehen nach gab er einen völlig unansehnlichen Greis ab, abgesehen von diesem durchdringenden, unergründlichen Blick seiner dunklen Augen. Seine klare Stimme und die fließende Intonation verrieten einen gewandten und überzeugenden Redner. Mit selbstbewusster Art, ruhig und unaufdringlich, hatte der Dorfpriester auf die hiesige Dorfgemeinschaft einen großen Einfluss.

– Verzeihung. Ich war in Gedanken.

– Nein, nein! Es ist völlig verständlich, dass du mich nicht gehört hast. – Er machte eine abwinkende Handbewegung und lächelte, als würde er die Schuld auf sich nehmen. – Ich trat zwar beim Gehen kräftig auf den Kies auf, dass er geräuschvoll unter meinen Schuhen knirschte. Du warst jedoch in der Erinnerungswelt versunken. – Sein Blick glitt über das Bild des Verstorbenen, über die Blumen und die angezündete Kerze. – Ich wollte dich nicht erschrecken. Im Gegenteil, ich bin auf dich zugekommen mit der Absicht, dich zu trösten.

– Ich danke Ihnen! – Sie nahm seine ausgestreckte Hand und richtete wie er den Blick auf das Bild auf dem Grabstein. Ich kann es noch immer nicht glauben… Er fehlt mir so sehr. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie schnäuzte ins Taschentuch.

– Möge er in Frieden ruhen. Er war ein geschätztes Gemeindemitglied und ein aufrichtiger Gläubiger. Immer wenn er ins Dorf nach Hause kam, ging er in die Kirche und gab ein Almosen. Nun hat der Herr ihn zu sich genommen und dich trauernd zurückgelassen, aber genauso wie das Leben, ergibt auch der Tod Sinn. Gott kennt seine Arbeit am besten.

Mila nickte kurz und betrachtete weiter das nun so ferne und unwirkliche Lächeln ihres Mannes. Sie erinnerte sich, dass er sich für den Mitgliederausweis des Hafens, in dem die Yacht über Winter ankerte, hatte ablichten lassen. Das war das schönste Foto von ihm, deshalb ließ sie es für den Grabstein vergrößern. Sie wusste selbst nicht, wieso, aber der fragende Blick des Pastors, der auf ihrem Gesicht haftete, irritierte sie in dem Augenblick und machte sie nervös. Er sprach freundlich, tröstend und wohlwollend zu ihr. Seine Worte klangen jedoch wie ein Teil einer nicht zu Ende erzählten Geschichte und nicht wie der Trost eines mitfühlenden Seelsorgers. Deshalb verstummte sie, senkte den Kopf und gab sich dem Gebet hin. Sie hoffte, dass Don Jozo ginge, sie in Ruhe mit ihrem Mann sprechen ließe.

– Ich werde dem Friedhofsgärtner sagen, er solle den Grabstein reinigen. – Don Jozo wies mit dem Kopf auf den Haufen vertrockneter Blumen und Kränze, und als hätte er ihre Gedanken gelesen, drehte er sich um und schritt in Richtung Kiesweg. Unser Petar verdient eine saubere Grabstätte.

– Danke!

– Du hast eine wunderschöne Tochter, – bemerkte er beim Weggehen. – Sie sieht dir ähnlich. Seit dem Begräbnis habe ich sie weder im Dorf noch am Grab ihres Vaters gesehen.

– Sie ist zu Hause geblieben… in der Stadt. – Seine Neugierde erstaunte Mila keineswegs, hier waren alle so. Sie entgegnete höflich: – Ich habe sie auch nicht gefragt, ob sie mitkommen wolle. Friedhöfe sind keine Orte, an denen junge Menschen ihre Zeit verschwenden sollten… Alles erinnert sie hier an die sich unlängst ereignete Tragödie.

– Friedhöfe sind Teil des Lebens, keiner von uns, unabhängig vom Alter, wird davor bewahrt. Siehst du, obwohl er erfolgreich und reich war, ihr Vater konnte sie nicht vor seinem eigenen Tod bewahren.

– Leider…

– Das Leben geht weiter. Alles bleibt unter uns.

– Wir haben uns, wir sprechen uns Mut zu.

– Gott sei Dank! Komm später kurz in der Kirche vorbei. Wenn du beichten möchtest, findest du mich in der Kapelle.

Das Beichten war das Letzte, was ihr in diesem Moment in den Sinn gekommen wäre, sie hatte auch kein Bedürfnis, die Kirche zu betreten. Bitter, dachte sie, dass sie Gott nichts zu sagen hatte und ihn nicht um Gnade bitten wollte. Gerade kämpfte sie mit dem Schmerz seiner Strafe, die im Grab vor ihr lag. Deshalb nickte sie dem Pastor zum Gruß wortlos zu, er ging auf dem Kiesweg fort. Trauer erhebt oder bricht dich, etwas Drittes gibt es nicht. Ich bin erschlagen von Schmerz , gebrochen, die Tochter aber stützt mich und heilt meine Wunden. Mit diesen Gedanken schaute sie ihm nach, bis er hinter dem Kirchentor verschwunden war.

Sie gab sich der Trauer und der Stimmung der Stille hin, die sein Grabstein ausstrahlte. Erwartungsvoll lauschte sie der Todesstille, ohne zu wissen, weshalb. Diese Strafe Gottes, dachte sie, die ihn wie Unkraut, wie einen nichtigen Grashalm niedergemäht hatte, wurde eigentlich von Menschenhand verhängt. Die Polizei hatte ihr gesagt, Petar habe mit seinem BMW plötzlich abgebremst, dass von hinten ein Lastwagen, der weder ausweichen noch rechtzeitig abbremsen konnte, auf ihn auffuhr. Er war in ihn geprallt, hatte ihn von der Straße abgedrängt, ihn praktisch in eine Gebäudewand gerammt. Laut Arztbericht, also laut Obduktion, unterschrieben vom leitenden Gerichtspathologen, der aus demselben Dorf stammte, hatte Petar einen Herzinfarkt erlitten und versehentlich die Handbremse gezogen. Der Gedanke, dass sich gerade in dem Augenblick im nobelsten Stadtviertel ein Laster befand, ließ bei ihr einen Kloss aus Unglauben im Hals zurück. Ist es möglich, dass Zufälle tatsächlich existieren? Und dass sie todbringend sind.

Die Zeit wird die Wahrheit wohl ans Licht bringen, nur sie bringt die Dinge dorthin, wo sie hingehören. Jetzt ist sowieso alles egal. Niemand wird ihr Petar zurückbringen.

Die Gedanken an sein zufälliges Unglück, lösten in ihr einen eigenartigen Widerstand aus, ein entsetzliches Bedürfnis, aufzuschreien. Mila erzitterte und wollte die plötzliche Angst verscheuchen. Sie schaute sich mechanisch um sich, ihr Blick schweifte über die Blumen, das Grün und den Marmor der kitschigen Gräber.

Das sind bloß Gräber. Ich bin erschöpft von der Trauer und den Fahrten hierher, entschlossen holte sie den klaren Verstand wieder zurück, verließ auf der Stelle den Friedhof, ehe sie sich eingebildet hätte, dass sie jemand beobachte.

Sie parkte den Wagen neben der Mauer auf dem geteerten Ende der Gasse, gleich neben dem Eingangstor, und betrat das verstummte Anwesen. Dort wurde sie von der untergehenden Sonne erwartet, die sich golden auf den gepflasterten Steinboden ergoss. Ihr trauriger Blick schweifte über den Steintisch unter der Rebe, auf die Töpfe mit Hauswurz, Efeu und Basilikum und über den prachtvoll blühenden Feigenbaum, als wäre er aus dem Fundament des alten Backofens entwachsen und würde ihn jetzt mit seinen sorgenvollen Ästen umspielen. Ihr Blick verharrte auf einer vergessenen Zange und einigen hölzernen Wäscheklammern auf dem Rahmen des Weinkellerfensters. Alles versprühte Leben, als wäre der Tod bloß zufällig vorbeigekommen oder wieder verschwunden. Alle Vorfahren ihres Mannes waren hier geboren und gestorben. Jetzt gibt es weder sie noch ihn. Diese paar gut erhaltenen und ordentlichen Steinhäuser aus dem 16. Jahrhundert, der Innenhof mit dem gepflasterten Steinboden umzäunt von Steinmauern und geschützt vor unerwünschten Blicken, waren ihrer Sorge überlassen, wie auch seine trauernde Mutter. Sie glaubte, den Kater der Schwiegermutter miauen zu hören. Sie sah sich um in der Annahme, die Schwiegermutter oder den Kater zu erblicken. Sie hoffte, es würde ihr besser gehen, und dass sie nächste Woche womöglich wieder zur Arbeit gehen könnte. Der Verlust des Sohnes hatte sie erschüttert, aber das Leben ging weiter. Egal, wie sehr uns die Trauer zurückwarf, das Leben nahm keine Rücksicht auf unsere Verluste. Die Geschäfte der Apotheke hingen von ihr ab, denn alle Bestellungen und Rechnungen warteten auf ihre Unterschrift.

– Jere! Jere! Komm, komm!

Sie sah die angelehnte Küchentür, die zum Haupthaus des Anwesens gehörte, lief darauf zu und lockte den Kater zu sich. Weder das Haustier noch die Schwiegermutter waren da. Mila schaute sich im leeren, aufgeräumten, aber beklommen traurigen Raum um. Auch der Herd war kalt, es standen keine zugedeckten Pfannen und Töpfe darauf, was sie nicht verwunderte, denn der Einzige, den ihre Schwiegermutter stets mit Essen empfangen hatte, war nicht mehr. Sie warf einen Blick in den Stall nebenan, einst hatte diese Hütte Schafe und einen Esel beherbergt. Seit Kurzem jedoch war er geschmackvoll zum Schlafzimmer ihrer Schwiegermutter umgebaut worden.

– Lucija! Wo bist du? Lucija!

Sie antwortete nicht, und Mila gab die Suche auf. Müde setzte sie sich auf die Bank unter der Rebe. Sie dachte, Lucija sei sicher irgendwo auf dem Anwesen, und solange sie nicht auftauchte, wollte sie sich der Ruhe und dem Frieden hingeben. Sie sehnte sich danach, sich vom Stress des Todes zu erholen und von den anstrengenden Anrufen der Kondolierenden, dem Mitleid und der Trauer von Menschen, die ihr nichts bedeuteten, zu flüchten. Nur die Hilfe von Petars Verwandten rund um das Begräbnis schätzte sie sehr, denn sie hatte in Momenten der Verzweiflung keine Ahnung, was zu tun war. Die Anrufe seiner Geschäftspartner mit ihren leeren Trostbekundungen belasteten sie zusätzlich. Alles, was sie brauchte, war Ruhe und Rückzug.

Sie dachte erneut an die Schwiegermutter und wunderte sich, dass diese sich nicht meldete. Sie musste irgendwo hier auf dem Anwesen sein. Sie hatte nicht die Angewohnheit, sich in der Nachbarschaft herumzutreiben, vor allem jetzt nicht, wo sie um den Sohn trauerte. Erneut glaubte sie, das Miauen zu hören. Eine böse Vorahnung überkam sie, während sie den Blick auf die Ölmühle wandte, eine größere Hütte, die mit Steinplatten überdacht war und in der einst Öl gepresst wurde. Von dort war das Geräusch gekommen. Sie blieb stehen wie eine Schlafwandlerin, dann schritt sie zur Türe, die bloß angelehnt war und woher sie das Miauen vernahm. Sanft stieß sie die Türe mit leisem Knarren auf. Es wehte ihr ein kalter Hauch nächtlicher Schattenbilder entgegen. Sie fuhr zusammen und schauderte, die Angst durchdrang sie messerscharf, aber vor ihr stand nur der große, gelbbraune Kater. Er schmiegte sich an ihre Beine, riss weinerlich miauend sein Maul auf.

– Was ist los, du Streuner? Da hast du dich also versteckt. Wo ist das Frauchen? – Mila nahm ihn auf den Arm und streichelte ihn besorgt. Der Kater zitterte, drückte sich fest an sie und miaute noch weinerlicher.

Mila schaltete das Licht an. Ein gelber Streifen ging von der Glühbirne aus, die am Ende des schwarzen Kabels hing, er fiel auf den großen Mühlstein, mit dem die Oliven gestampft wurden und auf die alte Presse mit den Säcken, in die sie danach gelegt wurden. Sie standen noch immer am selben Ort und leisteten der Zeit Widerstand. Früher wurde alles von Hand gemacht, und aus dieser Mühle floss einst vorzügliches Öl, dachte sie und blieb wie angewurzelt stehen. Neben der Mühle erblickte sie ein ordentlich hingestelltes, schwarzes Paar Frauenschuhe mit Absatz, einen Schritt davon entfernt einen antiken Stuhl. Darüber hing am Strick am Dachbalken befestigt der barfüßige Körper ihrer Schwiegermutter, gehüllt in ein schwarzes, seidenes Kleid. Milas Schrei durchdrang die Dämmerung, weckte die einschlafende Flur und versetzte das friedliche Dorf und die Umgebung der Trnpolje-Schlucht in Schrecken.

Auf dem Anwesen der Apothekerin Lucija Glavan wimmelte es von Polizisten. Der Krankenwagen versperrte den Eingang, und im Innenhof versammelten sich neugierige Verwandte und Nachbarn, bei denen die Nachricht, dass sie sich erhängt hatte, Unglauben und bedrücktes Schweigen hervorgerufen hatte. Die Polizeiabsperrung vor dem Eingang der Ölmühle trennte sie von Lucijas Körper, den die Polizisten von der Schlinge befreit hatten und über den sich nun der Gerichtsmediziner beugte. Er untersuchte den Körper und stellte den Todeszeitpunkt fest.

Die Beruhigungsspritze, die Mila bekommen hatte, betäubte sie leicht und verlangsamte ihre Bewegungen. Das Bild der erhängten Schwiegermutter vermochte die Spritze jedoch nicht aus ihrem Gedächtnis zu löschen. Sie war überrascht und ein Stück weit beruhigt über die Erkenntnis, dass sie ihr als Tote weder tödlich gefesselt noch hilflos erschien. Im Gegenteil, die Schwiegermutter wirkte auf sie mystisch schön, so ungewöhnlich ruhig und zufrieden. Als würde sie im neuen Zustand eine neue Vernunft ausstrahlen, die weiterwirkte, nur andersartig und anderorts. Erfüllt von einer überirdischen Klarheit, Lebendigkeit und mit neuem, unsterblichem Blick auf die Dinge. Ihr Gesicht hatte den ruhigen, tief nachdenklichen Ausdruck beibehalten, als hätte sie tatsächlich einen höheren Bewusstseinszustand erreicht. So schrecklich und schmerzlich uns der Tod auch erscheint, verrät er, dass der Mensch erst am Lebensende Grenzen überwindet, all das, was er im Leben gesucht hatte, findet, frei und selbstbestimmt wird.

Im Augenblick, als sie sie vorfand, war Mila entsetzt vom unerwarteten Todesbild. Ihr eigener Schrei holte sie aus dem Schock zurück, dann richtete sie den Blick tapfer auf das Leichengesicht der Schwiegermutter. Der Tod als geheimnisvolle, unbekannte Verwandlung des lebendigen körperlichen Zustands, erschien ihr in diesem Moment überhaupt nicht beängstigend. Im Gegenteil, unbeschreiblich tröstlich und friedlich.

–Hallo Mario! Mila hier, Petars… Kannst du kommen…? Schwiegermutter hat sich erhängt. – Sie hatte den Neffen ihrer Schwiegermutter angerufen, den langjährigen Bürgermeister von Trnpolje. Er wusste am besten, welche Polizeiwache heute Abend im Dienst war und wer in solch einem Fall gerufen werden musste.

– Mila, du bist es… Was sagst du da? Tante hat sich erhängt? Wo? Wann?

– In der Ölmühle… am Dachbalken.

– Ich komme sofort! Rühr nichts an! Ich bin gleich da!

Bürgermeister Mario Prcel brauchte keine zehn Minuten, selbst wenn es ihr wie eine Stunde erschienen war, bis sie ihn in der Tür erblickte. Unterwegs hatte er die Polizei und die Ambulanz gerufen. Das Sirenengeheul war zu hören, noch bevor er seinen Vater, seine Brüder, die anderen Tanten, ihre Kinder und ein paar engste Nachbarn benachrichtigt hatte. Mila wartete auf ihn auf dem Holzstuhl sitzend bei der Schwiegermutter, mit der Katze im Arm. Sie passte auf sie auf, sie wollte sie nicht alleine hängen lassen. Mario begleitete sie besorgt nach draußen, half ihr zur Bank unter der Rebe und brachte ihr ein Glas Wasser. Anschließend lief er mit dem Handy herum und erledigte mit gedämpfter Stimme Anruf um Anruf. Mila rief ihre Tochter an. Während sie ihr erklärte, was passiert war, drangen Wortfetzen an ihre Ohren: Sie hat sich erhängt… die Schwägerin hat sie gefunden… wir haben alles durchsucht… Petar… das Paket ist nicht hier… ich habe nachgesehen… sie hat nicht gestanden… ich glaube nicht … alles ist sauber… die Obduktion ist reine Formalität….

– Es ist nicht nötig, dass du kommst, Tanja, – versicherte Mila der Tochter. – Die Polizei und die Ambulanz sind hier. Sie haben sie heruntergenommen… Ich erzähle dir alles, wenn ich nach Hause komme. Mir geht es gut, mach dir keine Sorgen. Geh nur ins Bett, ich komme etwas später.

Unter den engsten Verwandten und Nachbarn der Schwiegermutter, die kamen und Mila ihr Beileid aussprachen, betrat auch ein alter Mann das Anwesen. Er war großgewachsen, knochig, wie ein Einsiedler grau- und langhaarig, bärtig, und in der Hand hielt er einen dicken Stock. Sich darauf abstützend, machte er sich in Richtung Polizeiabsperrung, zur Türe der Ölmühle auf. Der Hauptkriminalinspektor, der gerade mit dem Gerichtsmediziner die Leiche und den Ort des Selbstmords untersuchte, hob den Kopf und sah ihn an. Der Greis blieb stehen, ihre Blicke trafen sich. Das alte, furchige Gesicht erweichte, und seine Augen flackerten für einen Moment auf.

– Sie können nicht eintreten, – sagte der Polizeiinspektor, sichtlich verwirrt über sein Erscheinen, was er zu verbergen suchte, indem er sich erneut über die Leiche beugte.

Der Greis mit seinem Stock, den alle im Dorf wegen seines biblischen Erscheinungsbildes Moses nannten, schwieg. Mit der linken Hand stütze der sich am Stock ab und holte mit der rechten ein Taschentuch hervor. Er schnäuzte sich, seufzte hörbar und trocknete sich die Augen, ohne den Blick vom Inspektor abzuwenden.

–Wohin willst du, Moses? An den Tatort dürfen nur Befugte. – Neben ihm stand auch Bürgermeister Mario, der ihm aus Mitleid unter die Arme griff, um ihn zu stützen und ihn hineinführte. Beiläufig sagte er, der Alte sei ein enger Freund und er übernehme für ihn die Verantwortung. Der Inspektor schien ihn nicht zu kennen, er nickte und hob die Polizeiabsperrung hoch, damit sie hineingehen konnten. Mario ließ Moses bei Lucijas Körper und schlüpfte unter der Sperre hindurch zurück in den Innenhof. Während er sich entfernte, sprach er leise ins Handy.

– Lucija! – Moses beugte sich über den reglosen Körper der Freundin und streichelte mit zittriger Hand ihr weißes, starres Gesicht. – Lass nicht zu, dass es so zu Ende geht… – flüsterte er. – Hörst du? Lass es nicht zu! – Über sein Gesicht flossen Tränen, die er mit dem Ärmel abwischte.

– Es tut mir leid, Moses. Der Inspektor sprach ihm sein Beileid aus und schaute ihn mitleidig an. Er war von aufrichtiger Trauer gelähmt, was ihn noch älter aussehen ließ.

Der Alte nickte ihm dankbar zu. Auf den Stock gestützt, seufzte er. – Hat sie sich selbst…?

– Es sieht danach aus. Es gibt keine Spuren von Gewalteinwirkung. Aber die Obduktion wird darüber Aufschluss geben.

–Moses, komm jetzt! – rief ihm Bürgermeister Mario zu und hob das Polizeiband, damit er weitergehen konnte. – Sie müssen sie jetzt wegbringen.

Der Pathologe zog den Reißverschluss des Leichensacks zu, und zwei Rettungssanitäter transportierten die Bahre weg. Der Inspektor schaute schweigend und mit ernstem Gesichtsausdruck Moses nach, den Mario mit sich nahm. Er stützte sich aus Gewohnheit auf den Stock. Trotz seiner tiefen Erschütterung war sein Schritt fest und sicher. Die Bahre wurde in den Krankenwagen geschoben, die Türe geschlossen, und der Wagen fuhr mit betäubendem Sirenengeheul davon. Der Beweislage am Tatort zufolge war Lucijas Tod ein Suizid gewesen, und die bevorstehende Obduktion reine Formsache.

Der Alte klopfte Mila schwer atmend wortlos auf die Schulter, zum Zeichen der Beileidsbekundung. Sie bedankte sich leise und verabschiedete ihn mit einem Blick, während Mario der Bahre folgte. Mit Interesse musterte sie den jungen, gutaussehenden Inspektor, der ihnen ebenfalls nachschaute. Anhand seines teilnahmsvollen Blickes schloss er, dass sich die beiden kennen mussten, sie ähnelten sich sogar, aber das war nichts Verwunderliches. Hier waren alle miteinander verwandt. Inmitten der düsteren Atmosphäre all dieser wohlgesinnten Beobachter, von denen der Innenhof nur so wimmelte und die ihre Trauer heuchelten, war der Alte der Einzige, der aufrichtig trauerte.

– Sie haben sie gebrochen… – Sie hörte sein Seufzen, als er vom Tisch unter der Rebe aufstand, an dem sie gesessen hatte. – Mit dem Tod des Sohnes haben sie sie erledigt.

– Sie hat sich selbst erledigt… – Marios kühle Antwort ließ Mila erschaudern. Sie fragte sich ungläubig, wie er so gleichgültig gegenüber dem Tod seiner Tante sein konnte und was Moses’ Worte zu bedeuten hatten.

Von allen anderen, ja sogar von ihren Schwestern und dem einzigen Bruder, ging eine nicht nachvollziehbare kühle Passivität gegenüber dem Tod der Schwiegermutter aus. Obwohl angeblich alle erstaunt und betroffen von ihrer Tat waren, konnten sie nicht aufhören, sie anzuprangern und urteilende Schlüsse darüber zu ziehen. Sie manipulierten durch ihre Verzweiflung und beschmutzten durch den Tod ihr Opfer, stellten es als sinnlos und tragisch dar. Keiner hatte Mitgefühl oder ein Wort der Rechtfertigung gegenüber diesem Schritt der trauernden Mutter. Den Tod des Sohnes konnte sie nicht verschmerzen. Sie war ihm selbstbestimmt gefolgt, und dieser Entscheid war zu respektieren. Es war weder eine Tragödie noch ein Verbrechen, wofür sie es hielten. So rechtfertigte Mila sie in Gedanken. Ihre Finger pressten die Visitenkarte in ihrer Kleidtasche zusammen. Darauf war eine Sonne abgebildet, die mit gelben Strohblüten ausgefüllt war. Es war das Logo der Dorfgemeinschaft „Unsere Angelegenheiten“. Die Visitenkarte hatte sie in ihrer Hand gefunden. Vorsichtig, für keinen sichtbar, holte Mila sie hervor, las den bleistiftgeschriebenen Satz in gerader, unbekannter Handschrift: Die Ehre geht mit dem Kopf einher. Die Schuld bleibt in der Familie. Sie war sich sicher, dass das nicht ihre Schwiegermutter verfasst hatte. Es war auch nicht Petars Handschrift. Woher hatte sie die Karte und weshalb hielt sie diese im Augenblick ihres Todes in der Hand? Hatte dieser Satz womöglich ihren verhängnisvollen Entschluss beeinflusst? Was bedeutete er überhaupt? Diese ziemlich rätselhaften und beunruhigenden Fragen waren Grund genug, das Kärtchen der Polizei vorzuenthalten.

Auf die Fragen des Kriminalinspektors, eines ernsten, athletischen, braunhaarigen jungen Mannes, der sich ihr als Neven Tešija vorstellte, antwortete sie kurz und widerwillig. Sie war erschüttert, müde, hatte Kopfschmerzen, die Beruhigungsspritze hatte ihr den Rest gegeben. Sie sehnte sich nach ihrem Kind, wollte nach Hause zurück, und letztendlich hatte sie ihm auch nichts zu sagen. Sie hatte die erhängte Schwiegermutter gefunden und deren Neffen, den Bürgermeister Mario Prcela gerufen, den wichtigsten Mann im Ort, was er ihm bereits bestätigt hatte.

– Schließe das ab, Tešija, und lass sie in Ruhe, – sagte ihm der blonde, an jenem Abend ungewöhnlich nervöse Bürgermeister Mario. – Du siehst doch, dass die Frau unter Schock steht. Sie hat ihre Schwiegermutter erhängt vorgefunden, sie hat sie nicht erhängt.

– Das hat keiner gesagt. – Der Inspektor erledigte seine Arbeit. – Mein aufrichtiges Beileid, aber ihre Aussage ist unumgänglich. Danke für ihre Geduld!

Mila nickte freundlich und entgegnete sein Lächeln. Inspektor Tešija war kein bisschen anstrengend, im Gegenteil, er war symphatisch, aber sie war einfach müde und des Todes überdrüssig. Im Gegensatz zu Mario und allen anderen hier Versammelten, Schwiegermutters Verwandten und Nachbarn, die ihr gegenüber Mitleid spielten, schaute er sie mit ehrlichen und verständnisvollen Augen an.

–Wir fahren Sie zurück nach Split, – bot er ihr freundlich an.

– Danke, aber ich bin mit meinem Wagen hier…

– Überlassen Sie das Steuer einem Polizisten. Es ist besser, wenn Sie heute Abend nicht fahren. Sie stehen noch immer unter Schock.

Der tragische Tod wurde für Milas Tochter Tanja bittere Wirklichkeit. Sie war konfrontiert mit der heftigen, qualvollen Erkenntnis der Vergänglichkeit, rang beim Gedanken an sie mit der Angst. Deshalb überzeugte sie sich selbst ununterbrochen, dass auch der Tod als Teil des Lebens zur Liebe gehörte. Aber wie das Leben oft der Liebe beraubt ist, bedeutete es, dass man meist ohne sie in den Tod ging. Sie dachte überlegte, wie den Grossteil der Ereignisse in unseren Leben das Schicksal bestimmte, dass wir aber dennoch für den einen, kleinen Teil selbst verantwortlich waren. In völligem Gegensatz zur mütterlichen Meinung, war Tanja davon überzeugt, dass Liebe und Glück, und auf der anderen Seite der Tod und das Unglück, als Antworten auf die eigenen Taten folgten. Daher konnte sie nicht aufhören, kritisch über den Vater und die Grossmutter zu denken. Sie fragte sich dabei, was sie wohl falsch gemacht hatten, dass der Tod sie so brutal niederraffte. Wie verhängnisvoll der Grund sein musste, der einen normalen Menschen dazu trieb, zum Strick zu greifen und sich im eigenen Heim zu erhängen. Ihr Tod hatte sie früh getroffen, aber Scharfsinn und gesunde Urteilskraft schützten ihr junges Alter und machten ihr das Erlebte leichter erträglich. Während sie der weinenden Mutter zuhörte, die davon erzählte, wo und wie sie die erhängte Grossmutter vorgefunden hatte, über das Eintreffen der Polizei, der Ambulanz und der Verwandtschaft, die sich auf ihrem Gehöft geschart hatte, konnte Tanja die böse Vorahnung nicht abwenden, dass zuerst der Tod des Vaters und dann derjenige der Grossmutter, nur die entblösste Spitze dessen war, anhand derer ihre wahre Familientragödie sich zu entspinnen/entwirren begann. Den unangenehmen Geschmack im Mund kaschierte sie durch ein Lächeln, während sie die weinende Mutter tröstete und drückte.

Vor dem Tod an sich hatte sie keine Angst, denn schließlich war sie jung und wusste wenig darüber. In ihrem Innersten fürchtete sie aber einen weiteren Verlust sowie Schmerz und Trauer, die sie so unerwartet erfahren musste. So schwor sie sich innerlich, alles zu tun, um ihre Mutter zu beschützen, die Einzige, die ihr im Leben geblieben war. Mit Anspannung formte sie den Gedanken, dass der Tod des Vaters und der Großmutter nicht zwingend eine Tragödie bedeuten mussten. Vielleicht stellte der Tod der beiden auch Erfüllung, Aussöhnung dar. Andererseits konnte sie überhaupt nicht verstehen, weshalb sie derselbe Gedanke mit Trauer und einer noch größeren Angst vor der wahren Bedeutung ihres gewaltvollen Todes erfüllte.

Tanja Glavan fürchtete keine Bürden des Lebens. Schon als Kind hatte sie sich nie über etwas beklagt. Die Mutter war stets bei ihr, schenkte ihr Liebe, Fürsorge, Aufmerksamkeit, gab alles, was sie hatte. Der Vater arbeitete ständig. Sie wuchs auf im Warten auf die Abende, wenn der Vater nach Hause kam, ihre Zimmertür aufmachte, auf Zehenspitzen hereinkam, ihr einen Kuss gab und sie zudeckte. Oft erwartete sie ihn wach, er setzte sich auf den Bettrand und erzählte ihr von allem Möglichen. Sie sog jedes seiner Worte auf, atmete seinen Duft ein, fühlte seinen Puls und las in seiner Seele. Selbst wenn viele Eltern das nicht spüren und sich einige nicht darauf achten, ergründen die Kinder sie mit dem Herzen. So nahm auch sie mit feinen, kindlich unschuldigen Sinnen die Sorge des Vaters wahr. Mit ihren kleinen Fingern fühlte sie seine Last. In ihm lauerte leise Verzweiflung, die er hinter seinem lächelnden Gesicht unterdrückt und erstickt verborgen hielt. Als Gymnasiastin beobachtete sie ihn dann kritischer und bissiger, mit dem inneren Auge der reiferen Tochter. Sie kam zum Schluss, er würde eines Tages an einem Herzinfarkt sterben. Das bewahrheitete sich, obwohl sie nie an ein Verkehrsunglück gedacht hatte.

Am meisten litt sie wegen ihrer Mutter. Der Tod ihres Mannes beförderte ihre bisher geschickt versteckte Einsamkeit und fehlende Aufmerksamkeit an die Oberfläche. Seine Abwesenheit zu Hause, in der Familie und in ihrem Ehebett rechtfertigte sie durch die verantwortungsvolle und fordernde Arbeit, die er verrichtete, um ihnen ein angenehmes Leben zu ermöglichen. Aus diesem demütigenden, aber einzig vernünftigen Verhalten, durch das ihre Mutter die Ehe aufrechterhalten hatte, lernte Tanja schon früh, dass Männer überhaupt nicht daran dachten, wie sich Arbeit und Familie in Einklang bringen ließ. Dafür hatten sie zu Hause hingebungsvolle Frauen.

Obwohl sie seit frühster Kindheit mit Schicksalsschlägen konfrontiert war, gab Tanja nicht auf. Sie munterte die Mutter auf, indem sie ihr Albernheiten vom Ausgehen mit Freundinnen erzählte und sie durch ihre Zukunftspläne zerstreute. Sie hatte das erste Studienjahr der Rechtswissenschaften absolviert und sich einverstanden erklärt, der Mutter in den ersten Sommerferientagen in Großmutters Apotheke auszuhelfen, da Mutter diese behalten und das Geschäft weiterführen wollte. Danach sollte sie Vaters Arbeit übernehmen. Um Vaters Geschäfte kümmerte sich jetzt sein Cousin, der versprach, sie noch vor Semesterbeginn in die Arbeit einzuführen. Gegen den Tod gab es keine Einwände, es war die einzige Art, ihn zu überwinden und dem Leben eine neue Richtung zu geben. Tanja hatte begriffen, dass sie eine große Verantwortung tragen würde. Ihr behagliches Leben wurde über Nacht von Ungewissheit und von der Sorge überschattet, ob sie es schaffen würde, die privaten Geschäfte, die der Vater und die Großmutter ihnen hinterlassen hatten, zu führen und ein neues Leben aufzubauen. Sie war bereit, allen Problemen ins Auge zu blicken, da sie davon überzeugt war, dass diese Schicksalsschläge sie nur deshalb ereilt hatten, um den Verlust ihrer Liebsten zu erklären und ihnen zu helfen, die eigenen Pläne zu verwirklichen.

Ante Grgas, genannt Antiša, hatte als Soldat im Kroatienkrieg gekämpft. Er war mittelgroß, dunkelhaarig und gutaussehend. Er war nicht verheiratet und lebte mit seiner Tante mütterlicherseits in deren altem Elternhaus. Er war ein uneheliches Kind, seine Mutter damals minderjährig, und wer das Kind gemacht hatte, kam im Ort nie ans Licht. Die Mutter verschwand spurlos, als er noch im Säuglingsalter war. Ihre ältere Schwester zog ihn wie ihr eigenes Kind auf und heiratete seinetwegen nie. Er wuchs zu einem ruhigen, vorbildlichen jungen Mann heran und ließ sich nie auf einen Streit ein. Nach seiner Rückkehr aus dem Krieg zeigte er keine Symptome Posttraumatischer Belastungsstörung, dennoch hielten ihn alle für einen Sonderling. Das lag daran, dass er vom zuständigen Kriegsveteranenministerium nichts verlangte, nicht einmal eine Rente. Nie klagte er jemandem sein Leid, auch sprach er nie über seine Probleme, lebte zurückgezogen, einsam. Sogar von seinen Freunden, die er von der Front und den Bergen kannte, distanzierte er sich. Der Einzige, der ihm nahestand und sein Innerstes kannte, war sein Cousin Petar Glavan, Sohn der jüngsten der drei Schwestern seiner verstorbenen Großmutter. Petar stellte ihn in seinem Betrieb als Baustellenwachmann ein. Und bei Petars Mutter, seiner alten Tante Lucija, hielt er das Anwesen in Stand und kümmerte sich um den Garten. Moses fragte ihn oft um Hilfe, vor allem bei der Ernte, beim Wein- und Olivenpressen, beim Jäten und Bewässern des Weinbergs, der Olivenernte und bei der Saat auf den Feldern.

– Ein guter Veteran ist ein toter Veteran, Antiša – sagte Moses bei diesen Gelegenheiten und riet ihm, vom Staat eine Rente und eine Wohnung zu beantragen.
– Während ihr Jungen alle beflügelt von der Vaterlandsliebe eure Leben gegeben habt, plünderten die Opportunisten, machten sich alles zu eigen und bereicherten sich. Nimm auch du das, was dir von Gesetzes wegen zusteht.

– Ich brauche nichts. Ich habe eine Arbeit und bin zufrieden.

– Deine Jugend und Gesundheit hast du für unser unabhängiges Land geopfert, du hast dir die Unterstützung verdient.

– Jemand musste ja.

– Steh’ für dich ein! Siehst du denn nicht, wer euch Verrückte, übersät mit Granatensplittern, mit verstümmelten Gliedern, durch Minen abgetrennten Körperteilen, mit verlorenen Nerven und dem Sinn fürs Weiterleben, bei der Rückkehr aus dem Krieg erwartete? Angesehene Eigentümer, Magnaten, die neue, geldverliebte Elite, organisiert in Lobbys und Clans, eine Bande, das Geflecht aus Politikspitze und Untergrund.

– Jedem das Seine.

– Genau diese Kriminellen regieren und weisen euch naive, einfache, schlichte und unverdorbene Jungs, wie Arme, verächtlich von sich. Es gab allerdings auch unter euch üble Verbrecher und Nichtsnutze, aber auch solche haben sich wie gewohnt schnell in die Politik eingereiht und sich bestens zurechtgefunden. Angetrieben durch die moderne Parole, man könne anders nichts erreichen, nahmen sie reihenweise Machtpositionen ein.

– Wären sie nicht in den Krieg gezogen, hätten viele von uns, die fürs Vaterland gekämpft haben, Ausbildungen gemacht, wären heute erfolgreiche Ärzte, Ingenieure, Professoren, Unternehmer und auf alle Fälle ehrenhaftere und ehrlichere Politiker, als die heutigen. Sie sind verlogen und heuchlerisch, nur auf ihren eigenen Vorteil bedacht. – So rechtfertigte Antiša seine Kameraden. Für ihn waren sie keine Armen, sondern Helden, natürliche Intellektuelle, und in jedem von ihnen sah er den Menschen, nicht ihren Titel und Bildungsgrad. Auch er selbst hatte zwei Jahre an der Mathematisch-naturwissenschaftlichen Fakultät zwei Jahre Physik studiert, bevor er in den Krieg gezogen war. Hobbymäßig befasste er sich mit Religion und Esoterik, um, wie er zu sagen pflegte, die Ähnlichkeit zwischen Wissenschaft und Demagogie zu ergründen. All seine anfänglichen Ambitionen opferte er jedoch für das Heimatland.

Moses mochte den zurückhaltenden, fleißigen Antiša, den Veteranen und Patrioten, der mit seiner Ehrhaftigkeit dem letzten Mohikaner in ihrem Ort gleichkam. Er hegte väterliches Mitgefühl für dessen Kriegsleiden, das er mit sich herumtrug. Es war schwer zu vergessen, und noch schwerer, daran zu denken. Am schlimmsten war, dass keiner der Veteranen sich je mit dem Krieg aussöhnte und mit ihm ins Reine kam. Alle trugen ihn in sich im Glauben, sich über das Leben und über den Tod im Klaren und dem einen wie dem anderen gegenüber abgehärtet zu sein. Das ging solange, bis Ziellosigkeit und Hoffnungslosigkeit ihnen unerwartet den Blick in die Zukunft vernebelten und sie verzweifelt in den Selbstmord trieben. Ihr Krieg bestand aus Mut und Hoffnung, dem Lauschen der Granatengeschosse, dem Warten auf Marschbefehle, aus Aktion und Blut, durchwachten Nächten und hoffnungslosem Morgengrauen, dem Glauben an den neuen Tag, falls er überhaupt käme, der Ungewissheit über die Ungewissheit und ob sie endlich aufhörte… Wer all das überlebte, erlag irgendwann der Heuchelei des Friedens, für den er nicht gekämpft hatte. Besonders, wenn er merkte, dass diejenigen daraus hervorgegangen waren, die ihre eigenen Interessen verteidigt hatten, die neuerschaffene Elite. Während sie mit Feuerwaffen kämpften und ihre Leben hergaben, bereicherten die anderen sich durch kriminelle Machenschaften. Bei uns wurden zwei Kriege parallel geführt, der heroische und der räuberische. Dabei waren leider die wahren Sieger die falschen Kämpfer, diejenigen, die mit Vaterlandsliebe prahlten und sich dabei auf die feige Brust schlugen. Dabei widmeten sie Leib und Seele der legalen Plünderung der unabhängig gewordenen Heimat.

All dem zum Trotz blieb Antišas Wesen frei von Hassgefühlen, denn diese verabscheute er zutiefst. Im Krieg hatte er gesehen, wie sich dieser teuflische Samen wie Vogelknöterich, ein ungewöhnlich robustes, zähes Unkraut, ausbreitete, hatte er den Menschen einmal befallen. Seine Wurzeln drangen bis in die Tiefe seiner Seele und verflochten sich darin, sie widerstanden der Dürre und dem Frost unmenschlicher Gefühle, sie erstickten, vergifteten, und selbst wenn sie verwurzelten, gab es keine Hand, die sie so leicht auszehren oder beseitigen könnte.

Moses legte das Fernglas nicht aus der Hand. Seine Augen, angezogen wie durch eine geheimnisvolle Zwischenverbindung, blieben auf Antiša, dem Veteranen, haften. Er war erstaunt darüber, dass er Antiša in Gesellschaft von Arbeitern erblickte, die er normalerweise mied, und das am Vormittag, wenn am meisten los war. Sie machten gerade Pause, und so setzte er sich auf eine Kisten neben sie, was Moses noch viel mehr verwunderte. Mit ihnen hatte er keine gemeinsamen Themen, zudem hasste er ihre ungehobelte Ausfragerei und ihr hartes Urteilen. Laut und angeberisch wie Befreier stürzten sie sich genüsslich aufs Brot, den Käse und auf die auf Packpapier geschnittene Lyoner Wurst. Das Papier war auf einem Haufen gestapelter, voller Säcke ausgebreitet. Auch ihm boten sie davon an, was er mit einer Kopfbewegung ablehnte, er griff nur nach der ihm angebotenen Bierdose. Moses traute seinen Augen nicht, erst jetzt befielen ihn Sorgen. Er fragte sich, was Antiša von ihnen wollte und als Erstes ging ihm durch den Kopf, ob er ob er die Ursache für Petars und Lucijas Tod ergründen wollte. Es war bekannt, dass er sich mit den Erklärungen über die Todesursache nicht zufriedengab, gut möglich, dass er nach Beweisen für das Einwirken einer unheilvollen Hand suchte. Noch war er nicht im Reinen damit, was mit Petar geschehen war, als ihn die Nachricht über den Selbstmord von Petars Mutter erschütterte. Ihrem Begräbnis blieb er fern. Aber auch an jenem Abend, als man sie erhängt gefunden hatte, konnte er ihr Anwesen nicht betreten. Er wollte einfach nicht glauben, dass auch sie tot war und weigerte sich, die Situation mit eigenen Augen zu sehen. Seine Tante hatte sich an jenem Abend ernsthaft um ihn gesorgt und bat Moses, bei ihm vorbeizugehen und mit ihm zu reden. Dieser fand ihn im Dunkeln sitzend. Alleine auf der Terrasse vor dem Haus, mit angespanntem Gesicht. Er starrte die Mücken an, wie sie naiv in die Todesfalle des grellen Lampenscheins tappten und verbrannten. Der Anblick war beklemmend, und ihre giftigen Stachel sogen mit unermesslicher Trauer auch die Seele aus. Er war schrecklich eingefallen, wirkte wie ein ausgedienter Schiffskadaver mit gebrochenem Mast der Lebenslust und Segeln aus Seelenfetzen. Beim Schiff war unsicher, ob es noch halten, ob es lieber sinken oder doch lossegeln würde, falls man es aufs Meer hinauslassen würde. Moses setzte sich neben ihn auf den Stuhl, seufzte und strich sich mit einem feuchten Taschentuch über Augen und Nase. Er sprach nicht, beide schwiegen und lauschten dem Glockengeläut. In Moses’ Erinnerung erklang erneut derselbe weibliche Glockenschlag, der gedehnte Klang kurzer Schläge, zuerst drei, dann fünf, dann sieben Schläge, woraufhin ein zweiminütiges, durchgehendes Geläut folgte. Der bedrückende Klang verkündete den Ortsansässigen, dass seine beste Freundin gestorben war. Das schmerzte ihn auch jetzt tief, und es schien ihm, als würde er fallen und im Strudel der verlorenen Ewigkeit verschwinden, bis die Glocke in seinem Kopf, so wie damals, plötzlich verstummte. Beide hatten in jenem Augenblick aus dem winzigsten Kern, der unersetzbarsten Stelle der Seele einen schweren Seufzer ausgestoßen und der dreifache Glockenschlag setzte erneut ein. Moses erinnerte sich, dass er in Gedanken die Glocke beobachtet hatte, wie sie hin und her baumelte und sich verzweifelt wünschte, es würde Mittag schlagen.

Nach der Pause verstreuten sich die Arbeiter, jeder kehrte zu seiner Arbeit zurück und Antiša blieb vor dem Eingang des Lagers neben einem Alteisenhaufen stehen und schaute, ob etwas Brauchbares dabei war, vielleicht eine feste Hacke oder ein Pickel, den man auf einen neuen Stiel stecken könnte. Moses beobachtete, wie er eine Hacke herausnahm, mit ihrer stumpfen Seite auf den Betonboden schlug und die getrocknete Erde abschüttelte, um sich zu vergewissern, ob sie noch stabil war. Offensichtlich gefiel sie ihm nicht, er warf sie wieder zurück, bückte sich, ergriff eine andere. Auch diese probierte er aus und warf sie dann desinteressiert auf den Haufen zurück. Während er seine Unentschlossenheit beobachtete, das Ergreifen und Zurückwerfen, aber auch seinen auf die Straße und Einfahrt gerichteten nervösen Blick, hatte Moses plötzlich eine Eingebung, er verdrängte dabei seinen beschleunigten Herzschlag und schweifte mit dem Fernglas über den Hof. Er schweifte mit dem Objektiv zu Antiša zurück. Die Hacken, mein Freund, brauchst du nicht. Du trödelst absichtlich. Wartest du wohl auf jemanden? Es war, wie es geschienen hatte, denn er erblickte einen einfahrenden Wagen, zuckte zusammen und richtete sich auf. Moses konnte ihn und den Parkplatz vor dem Gebäude erfassen, auf dem gerade ein schwarzer, offener Laster parkte. Der Fahrer, ein kräftiger Mann mittleren Alters, stieg zuerst raus. Nach ihm erschien neben der Beifahrertüre ein schlaksiger, braunhaariger Junge in Gärtnerkleidung sowie ein Mischling, der, soweit man mit dem Fernglas beurteilen konnte, einem Labrador glich. Moses erkannte den örtlichen Totengräber und seinen Sohn mit dem Hund. Der Totengräber kümmerte sich um den Ortsfriedhof „Naš spokoj“, „Unsere Ruhe“. Dort pflegte er den Kirchhof und Garten. Bestimmt war er gekommen, um irgendwelche Dinge abzuholen, vielleicht Samen, Setzlinge, Dünger oder Chemie gegen Unkraut. Mit dem Zettel in der Hand, vielleicht einer Bestellung, betrat er das Gebäude, sein Sohn und der Hund blieben draußen. Als Antiša sie erblickte, ließ er die Hacken und Pickel fallen und machte sich hastigen Schrittes in ihre Richtung auf.

– Ach so, auf den Totengräber wartest du also… Aber wieso in der Landwirtschaftskooperative? Du hättest ihn auch anrufen oder zu ihm gehen können, – Moses wunderte sich sehr darüber, auf welche Art Antiša seine Rolle spielte. Seine Tante war, soviel er wusste, bei guter Gesundheit und quicklebendig. Oder war sie womöglich heute Nacht verstorben?

Es sah aus, als hätte Antiša dem Jungen etwas zugerufen, denn dieser drehte sich zu ihm um. Sie sprachen vertraulich, von Angesicht zu Angesicht. Der Sohn des Totengräbers winkte mit dem Kopf ab und fasste ihn grob am linken Oberarm, während Antiša ihn offenbar von etwas zu überzeugen versuchte. Der Junge machte eine abwehrende Bewegung, riss seinen Arm los und stieß ihn von sich, während der Hund das Maul in seine Richtung aufriss, als würde er losbellen. Antiša ließ nicht locker, kam näher und sagte ihm etwas. Der andere jedoch stieß ihn noch heftiger von sich und schrie, er solle ihn in Ruhe lassen, was Moses aus seinen Gesten, seinem wütenden Gesichtsausdruck und dem noch wütenderen Herumtoben und den Maulbewegungen des Hundes, schloss. Antiša sah dem Jungen und dem Hund nach, als sie ins Gebäude traten. Als der Junge durch die Türe verschwand, spuckte er zornig und machte sich schweren Schrittes davon. Moses folgte ihm mit dem Fernglas, bis er hinter der riesigen Kornkammer verschwunden war und dann die Straße hinunterging. Worüber auch immer sie geredet hatten, die Zurückweisung des Jungen traf ihn bitter. Er erschien ihm genauso verzweifelt und verloren, wie an dem Abend, als sich Lucija erhängt hatte.

An diesem Tag befiel Moses ein lästiger Wurm, er biss und reizte ihn, er nahm ihm die Lust zu arbeiten und verhinderte eine genüssliche Erholung. Die unangenehme Vorahnung, Zaghaftigkeit und Verlustangst bedrückten ihn. Es war, als stünde ihm die Rechtfertigung vor einer durchtriebenen, im Streit übermächtigen Person bevor, mit einem ungewissen und für ihn keinesfalls vielversprechenden Gesprächsausgang. Er konnte sich von dem Gedanken nicht befreien, dass das unheilvolle Schicksalsrad einer ihm nahestehenden Person in Bewegung gekommen war. Da er keine Ruhe fand, machte er sich auf zur Bergseite, auf der sich die landwirtschaftliche Kooperative befand, und suchte nach irgendeiner Spur, die zum geheimen Eingang in den ehemaligen Luftschutzkeller der jugoslawischen Armee führen könnte. Er ging zu Fuß, festen Schrittes, dem Vogelknöterich durch das Gehölz folgend. Ab und an hielt er im Schatten der Bäume an. Mit eisernem Willen trotzte er der Hitze, die nicht nachlassen wollte, obwohl es schon später Nachmittag war. Nach einem längeren Marsch machte er neben einer klaren Flussquelle halt. Obwohl sie auf die Hälfte geschrumpft war und leiser plätscherte, trocknete sie auch bei größter Hitze nicht aus. Mit den Händen schöpfte er sich ein wenig Wasser, achtete dabei darauf, es nicht zu trüben, wusch sich das Gesicht, schlürfte zwei, drei Mal und ruhte sich ein paar Minuten aus. Den entspannenden Moment der Erholung unterbrach der Gedanke, dass er nicht alleine war und dass eine üble Gestalt sich in seiner Nähe aufhielt. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Er konnte nicht mehr klar sehen und ihm schien, als stiege aus dem Wasser etwas Graues, Missmutiges. Er erhob sich und rang panisch nach Luft. Er stieß einen Verteidigungsschrei aus. Der unglückbringende Schatten verschwand, nachdem er sich dem festen Griff der Panik entreißen konnte. Er starrte mit aufgerissenen Augen auf das Gebüsch, wohin die Gestalt verschwunden war. Er fand keine Worte für das, was ihm widerfuhr, aber mit Sicherheit war es nichts Gutes, also umfasste er kräftig seinen Stock. Er drehte sich nach allen Seiten um, wartete und horchte, aber die ihn umgebende Natur zeigte sich unberührt und unschuldig. Das glockenähnliche Vogelgezwitscher gab ihm den Glauben und das Bewusstsein zurück, er sprach sich Mut zu, indem er über sich selbst zu spotten begann. Sammle dich, Alter! Es kommt dir nur so vor! Die Hitze ist dir zu Kopf zu gestiegen. Auf dem sich schlängelnden Ziegenpfad ging er weiter bergauf, er umging den Hang mit der Kirche und dem Friedhof, indem er über sie hinwegstieg. Der Pfad war nur für Ziegen und wilde Tiere bestimmt und bescherte ihm einen schweren Aufstieg. Schnell ermüdete er, suchte nach Schattenplätzen und musste sich ausruhen. Der Strohhut schützte ihn vor der Sonneneinstrahlung, aber darunter badete er in Schweiß. Dennoch gab er nicht auf und stieg im gleichen Tempo in Richtung Landwirtschaftskooperative ab. Vorsichtig beschaute er das Gestein, schaute in jedes Loch und jede Spalte, er ging sogar durch auffälliges Gebüsch und Geäst, wie Brombeeren und Dornensträucher, und machte sich den Weg mit den Füssen frei. Er hoffte, dass er früher oder später auf eine Spur stoßen würde, aber vergeblich. Nicht den kleinsten Hinweis auf Beton hatte er gefunden, der zum Eingang eines Luftschutzkellers führen würde. Langsam wurde er müde und gestand sich traurigen Herzens ein, dass er das Versteck nie finden würde.

Um sich auszuruhen, war er zum Aussichtspunkt im Kiefernwald oberhalb der Landwirtschaftskooperative herabgestiegen, sein Blick schweifte erstaunt und zaghaft über die eingeschlafene Landschaft, die wie geschmolzene Butter auf warmem Brot im Glanz der glühenden Sonne lag, durch die der silberne Streifen eines Flüsschens strömte. Auf einmal vernahm er ein ungewöhnliches Rauschen, das ihn durchzuckte. Instinktiv drehte er sich um. Für den Bruchteil einer Sekunde bemerkte er den Schatten, ähnlich demjenigen bei der Quelle, er verschwand jedoch, indem er mit dem Schatten der alten Tannen verschmolz.

Moses verschluckte sich vor Unglauben, hustete, erhob sich schnell und suchte mit dem Blick die Dunkelheit der Bäume ab. – Hallo! Wer ist da?

Er stützte sich am Stock ab, beeilte sich auf dem Pfad durch den Kiefernwald, in der Hoffnung, jemanden zu erspähen oder einzuholen. Wenn es nicht der schwarze Teufel ist, so ist es ein lebendiger Mensch. Mit diesem Gedanken kam er zum sanften Abhang, aus dem ein großer Felsen ragte und daneben, auf dem Plateau, stand an den Felsen angelehnt eine kleine Steinhütte, die Bunja. Die alte und einfach gebaute, kreisförmige Zufluchtsstätte, fensterlos, aber mit enger Tür aus Brettern, die Hirten vor wer weiß wie langer Zeit gebaut hatten, damit sie darin übernachten oder sich vor Unwetter in Sicherheit bringen konnten. Einige nannten sie auch Schober, da sie nach Stroh roch, das die Hirten auf dem Lehmboden zu verstreuen pflegten, um bequemer schlafen zu können. Sie war noch immer in gutem Zustand, aber heute nutze sie keiner mehr. Mit etwas Anstrengung, indem er mit Kraft aus den verrosteten Scharnieren ein Knirschen herausbekam, öffnete Moses die Türe. Das Tageslicht drückte durch und breitete sich über das schwarz gewordene, zertretene Stroh aus. Ein feuchter, schimmeliger Geruch schlug ihm entgegen. Der unberührte, enge Innenraum barg sicherlich keine Geheimnisse, also schloss er die Türe wieder. Wäre jemand hereingekommen, hätte ihn das unvermeidbare Knarren der Türe verraten. In der Bunja herrschte dagegen schwere Stille, und außer ihm war niemand in der Nähe. Er gab die weitere Suche auf und verwarft den albernen Gedanken, dass ihm ein Geist gefolgt war, denn mit dem Alter verlieren sich die Grenzen hin zum Unmöglichen. Er begab sich hinunter zur Landwirtschaftskooperative, ziemlich müde und gereizt von den paranoiden Bildern und dem vergeblichen Fußmarsch.

Deutsche Übersetzung Jelica Popović

Jagoda Šimac

Ausschnitte aus dem Roman „Čekajući ljubav“ („Warten auf die Liebe“)

Die hiesige Wirklichkeit war kalt und unerbittlich. Ich fand mich mit meiner Tochter, sie war noch ein Mädchen, allein in einem fremden Land wieder, ohne meine Nächsten, ohne Freunde, ohne irgendetwas. Die Verwandtschaft zerstreute sich in alle Welt, die geliebten Freunde waren weiß Gott wo, jeder von seinem Schicksal getroffen. Meine Liebe atmete irgendwo in der Ferne, verloren und verborgen wie noch nie zuvor. Vor mir erstreckten sich Jahre der Lustlosigkeit, Verlassenheit, Einsamkeit und Ungewissheit.

Seine Lebensart änderte sich wenig. Er übte weiterhin seinen Beruf aus, stieg auf und wurde geachtet. Mein Leben beschränkte sich auf einen monotonen Alltag, auf Einsamkeit und das Wohlwollen des geistlosen, kalten Westens. Mein Mann hatte mich verlassen, ohne Lenkrad und Kompass, inmitten der fremden, gefühllosen Welt. Ich wusste nicht, was ich mit mir anfangen sollte. Ein Leben im Überfluss, das ich vor dem Krieg geführt hatte, tauschte ich erst gegen Flüchtlingsheime, später mit Müh und Not gegen eine enge Einzimmerwohnung im ärmlichen Stadtteil. Das Schlimmste war die Einsamkeit, die mir den Rest gab, das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und Verlorenheit drohte mich zu ersticken. Die Tochter brauchte mich, so hielt ich durch und harrte aus. Die Hilfsbereitschaft, das Verständnis und Mitgefühl der ersten Tage den Flüchtlingen gegenüber, hatten die Gastgeber in Verachtung und Ignoranz gewandelt. Sie schauten uns von oben herab an und verstanden nicht, welche Sorgen uns plagten. Das ist nun mal so. Wer arm ist, ist auch Gott zuwider, würde meine Oma sagen. Sie schauten durch uns hindurch und konnten es kaum erwarten, uns wieder loszuwerden, wir aber achteten nicht auf ihren Hochmut und ihre Unduldsamkeit. Die Südslawen sind stolze Völker und geben niemals auf. In der Evolution unserer Existenz haben wir alle Rekorde gebrochen und sind wahre Überlebenskünstler geworden. Die heuchlerische, verdorbene Politik der Großen und die Käuflichkeit der Kleinen bürdeten uns den Krieg auf. Dagegen konnten wir nichts tun, die neue Zukunft haben wir uns geschickt und klug selbst geschmiedet. Auf alle möglichen Arten bemühten wir uns, ordentliche Dokumente zu bekommen, um bleiben zu können. Dabei scheuten wir keine schwere Arbeit. Wir waren froh, eine Arbeit zu haben, denn das Schlimmste war, leere Tage zu zählen. Arbeit erfüllte, trieb die Zeit schneller voran und war nützlich. Das Geld, das wir bekamen, reichte für ein normales, jedoch bescheidenes Leben. Vorausschauend überlegte ich mir und war darum besorgt, wovon wir leben würden, wenn wir zurückgingen. Deswegen arbeitete ich tagsüber, während meine Tochter in der Schule war, als Küchenhilfe in einem nahe gelegenen Restaurant. Alles, was ich verdiente, legte ich auf die Seite. Die Arbeit war erniedrigend, so wie übrigens alles, was wir hier erlebten. Die Tätigkeit beschränkte sich vor allem auf physische Arbeiten, Bedienen und Putzen. Unsere sozialistischen Diplome wurden hier nicht akzeptiert und als wertlos erachtet. Zum Teufel, ist nicht jedes Wissen Wissen? Und Wissen ist Gold wert. Die aufgewendeten Jahre menschlicher Mühsal werden doch nicht einfach so durch die Politik abgelehnt. Ich erinnere mich, dass ich damals in einer unserer Zeitungen ein Interview mit einem berühmten Schauspieler gelesen hatte, der auch in europäischer Armut lebte. All das, was uns widerfahren war, verurteilte er bitter und führte an, wie traurig es sei, dass wir zu Kellnern Europas geworden waren. Von meiner eigenen Erfahrung ausgehend würde ich ergänzen: zu Kellnern und Putzkräften. Wir beseitigten den gesamten europäischen Dreck und schluckten die europäische Verachtung. Ja, wie hätte ich mich angesichts eines solch erniedrigenden Lebens melden können?

Am meisten freute ich mich über die Telefongespräche mit meinen alten Freunden, die über den ganzen Globus verstreut waren. Zu jeder Tages- und Nachtzeit war mir bewusst, wie spät es in Los Angeles war, ob Paris gerade aufgewacht oder auf dem Weg ins Nachtleben war. Ein Großteil der Bekannten und Verwandten war in Europa verteilt, einige zogen nach Neuseeland, Australien und Kanada, und so wusste ich auswendig, ob es in Melbourne dämmerte oder ob in Montreal Schnee gefallen war. Wir alle, die zusammen aufgewachsen, zur Schule gegangen, uns verliebt und dieselben Träume geträumt hatten, erwachten plötzlich auf unterschiedlichen Erdteilen und schauten, unseren Augen nicht trauend, unsere Kinder an. Unbekannte, fremde Gefühle waren in ihre Herzen eingeprägt, und aus ihren Mündern kamen Worte verschiedener Weltsprachen. Die Nachfahren verlieren sich, sie verschwinden. Nur noch wir Älteren suchen einander und rufen uns an, gemeinsam holen wir verbissen das Ausgeträumte zurück, was uns längst den letzten Gutenachtkuss aufgedrückt hat.