Aleš Steger am 13.3.21
Es war einmal ein Gedicht.
Das Gedicht hatte zwei Ohren,
Ein winzigkleines und ein riesengroßes Ohr.
Wie kommt das nur?
Ein Gedicht sollte immer nur zwei gleich große Ohren haben
Doch auch dieses Gedicht hatte ein Ohr,
Mit der es der Welt zuhörte,
Und ein zweites, durch das es der Welt zuredete.
Manchmal war das Gedicht aufgeschlossen,
Es lauschte der Welt mit dem Riesenohr,
Und flüsterte zurück durch das kleine, bescheidene Öhrli.
Ein anderes Mal war das Gedicht in sich gekehrt,
Es hörte fast nur sich selber durch das winzig kleine Ohr,
Schon das bescheidenste Wort von draussen
Kam durch das riesengroße Ohr vergrößert hereingeschossen.
Es war ein merkwürdiges Gedicht,
Es kannte sich selber nicht.
Ein Gedicht mit wechselndem Gehör.
Es putzte sich die Ohren nur ungern.
Judith Keller am 20.4.21.
Windig ist es diese Tag, das Wetter immer zu entschlossen. Das Ohr, das nun einer Frau gehört, meint, das Rauschen des Meeres zu hören, das Salz in der Luft, als sie von ihrer Wohnung durch die grauen Strassen Richtung Oerlikon läuft. Sie kommt auf den Marktplatz, Männer spielen Schach mit grossen Plastikfiguren, der Wind rüttelt an ihnen und das kräftige Licht beleuchtet sie. Es ist Küstenzeit. Sie hebt den Blick Richtung Bahnhof. Hinter den Gleisen, wenn sie zum Messegebäude ginge, müsste es heute zu sehen sein, das weite, blaue Meer. Sie lauscht.
Was will der Wind mit diesem Personal?
Der Frühling kam mit Spiegeln in den Händen.
Sie, die so gerne dem Tag zuschaut.
Die geweckten Hoffnungen, ihr mangelnder Schlaf.
Das wie eine Möwe schreiende Kind, das in einsamem Ehrgeiz zum Brunnen rennt. Der gähnende Vater, der die Zeit stoppt.
Sind es die Menschen oder die Natur? fragt der Mann hinter dem Postschalter eine Kundin, die Stimme etwas gedämpft.
Der Mann in dem Container, der einer Klientin gleich ein dünnes Gerät in die Nase schieben wird, sagt gut gelaunt, sie müsste keine Angst haben, denn er mache es gern.
Der Bann und dass er um den Schreibtisch liegt.
Ein Eichhörnchen war es, das auf dem Trottoir so zögerte. Später erschauerte der Baum.
Woher der Drang, sich unbemerkt vorbeizuschleichen?
Der kratzende Stolz.
Wie bleibt man flüssig?
In Bälde.
Aleš Steger am 26.4.21
Wenn man nicht mehr weiß, wie man mit dem Regen auskommt:
Man nehme zuerst ein weißes Blatt Papier. Kein großes Blatt, man nehme am besten ein ganz kleines Notizblättchen.
Man schaue so lange angespannt darauf, bis man 100% sicher ist, das heute nichts drauf stehen wird.
Dann lege man es schön trocken und mittig auf den Schreibtisch, den mit dem Bann des Nichtschreibens umhüllten.
Dort ist das Blatt am weißesten, am sichersten, ganz sich selber und der Witterung des Innenraumes überlassen.
Dann verschließe man alle Türen und Fenster vor dem Durchzug und der Feuchte, vor allen unerwünschten Besuchern, vor dem Außenlicht.
Ein Zimmer, ein winziges weißes Blatt Papier, ein Tisch, der Geräusch des Regens, sonst nichts.
So ist es schon besser.
Im Dunkel leuchtet das weiße Blatt wie von einem inneren Licht erfüllt, ein kleiner viereckiger Lichtkörper.
Aber warum einen Vergleich aufstellen, wenn man es auch schlichter sagen kann.
Im Dunkel leuchtet das weiße Blatt von innerem Licht erfüllt.
Ist man es selber, die eigene Natur, die einem solch blöde Sachen in die Gedanken schmuggelt?
Ist man es selber, die eigene Natur, die für jeden Blödsinn sofort eine Entschuldigung hat?
Man kann es überhaupt nicht mehr ansehen, so sehr leuchtet das unbeschriebene kleine weiße Blatt Papier im Dunkel.
Es ist zunehmend unausstehlich.
Wenn man nicht mehr weiß, wie man mit dem kleinen weißen Blatt auskommt:
Man krieche unter den Tisch, drücke sich die Ohren zu, die Augen zu, man halte die Luft an.
Womöglich stimmt es, dass Schreiben Zeitverschwendung ist, doch das Nichtschreiben ist dafür extrem produktiv.
Und so billig!
Und so sicher!
Draußen regnet es noch immer.
Unter dem Tisch aber leuchtet das weiße trockene Blättchen wie eine Glühbirne im Brutkasten.
Es einfach nicht aufhören, durch die Tischplatte, durch deinen Schädel darunter zu leuchten.
Komisch, wofür ein Schädel gut sein kann. Und vom Tisch mit dem Bann des Nichtschreibens wollen wir gar nicht sprechen.
Sprechen?
Sprechen ist für nichts gut. Schreiben noch weniger.
Und wofür kann ein Blatt gut sein?
Kein Blatt.
Eine Öffnung am Schreibtischbauch, im Schädel, draußen, drinnen.
Licht aus. Licht an. Licht aus. Licht an.
Draußen, draußen habe ich gesagt.
Ist es noch immer da, das weiße leuchtende Blatt Papier, der kleine Lichtspalt über dir, in dir?
Und das Geräusch von Regen?
Wenn man nicht mehr weiß, wie man mit dem kleinen weißen Blatt auskommt:
Das einzige was man tun kann, ist schrumpfen.
Man soll so klein, so nicht existent werden, wie man nur kann.
So klein, dass man den Tisch raufklettern, das kleine Blatt öffnen, das Weiß zur Seite schieben und ins Licht reinklettern kann.
Auch ohne Schreiben wird der Regen aufhören.
Judith Keller am 28.4.21
Das einzige, was man tun kann, ist schrumpfen, steht da auf dem weissen Papier auf dem Tisch und ich habe Lust, noch mehr zu schreiben.
Draussen: der wolkige Blütenbaum, ich möchte mich in seine Kugeln schmiegen und tue es auch.
Im Café am Limmatplatz C. getroffen. Seit sechs Jahren habe ich sie nicht gesehen: Über verschiedene Leute der Sprachschule gesprochen.
Über M. zum Beispiel. Beide finden wir sie geheimnisumwittert. Alles sagt sie zu einem hingeneigt, flüsternd, als sei es ein Geheimnis. Einmal erzählte M. mir von einer Jugendherberge in Schottland. In dem alten Bad habe sie es in der Nacht plötzlich atmen gehört. Ihr Gesicht, wie sie das erzählt. Man zweifelt nicht daran, dass es stimmt.
C. und ich vermuten, M. habe dem Leben noch anderweitig tief ins Auge geblickt. Und irgendwie hat sie es sich dann eingerichtet in dieser Sprachschule, schlecht bezahlt, oft klagend, immer mit hohen Absätzen, immer über eben diese sich beklagend.
Jetzt dann S. treffen. Mit ihr Spargeln essen und über den Literaturbetrieb reden. Kürzlich wurde ich in einem Gespräch dazu befragt. Wie es war, in den Literaturinstituten zu studieren. Danach: Beklemmung. Alles erscheint merkwürdig.
Blasen. Das Gefühl, in einer Blase zu leben.
Überall Blasen!
Manchmal nachts jetzt vermehrt solche Gedanken.
Was wird mit mir in zehn Jahren sein? Werde ich Bücher schreiben? Und wenn ja, solche, die etwas mit mir zu tun haben oder solche, die sich im Betrieb unterbringen lassen? Wer wird noch lesen und warum?
Wieder zum Schreiben finden, das losgelöst ist von all diesen Fragen. Das ist gar nicht so leicht.
Deadline gerade noch geschafft. Jetzt: Rechnung stellen für Gedicht. Text zur Ausstellung Arrghuments. Text für Ausstellung im Waschsalon. Text zu Adelheid Duvanel. Danach Text für Literaturpause Beitrag zu „Neues denken / neues Denken. Deadline 13. Mai. Danach bald die Reportage über Zürich (Deadline vergessen.) Eine andere Reportage dürfte ich auch schreiben. Ich schäme mich, dass mir nichts einfällt. Das ist schlimm, denn es wäre eine Gelegenheit, Geld zu verdienen. Und müsste einer freien Schriftstellerin nicht etwas einfallen? Wem, wenn nicht ihr?
Hast du eigentlich keine Ideen?
Aha, keine Fantasie?
Wann beendest du deinen Roman?
Wollt ihr ihn denn drucken?
Die Welt hat sich so verändert, seit ich ihn begonnen habe. Ich muss wieder ganz hineinfinden. Hinabtauchen in die Tiefe mit einem Taucheranzug und einer Stirnlampe und in Ruhe abtasten, was alles schon da ist.
Zum Glück bald: die Solothurner Literaturtage.
Draussen die Kräne.
Alles ein wenig auf Halbmast.
In Oerlikon über dem Gemüsemarkt ist der Himmel grau. Die redselige Dame mit der Achtziger-Jahre-Frisur, die mir vor wenigen Tagen in einer flötenden Stimme ihr Vorhaben unterbreitete, einen anderen Lippenstift für den Frühling kaufen zu wollen, einen, der weniger hart sei, fröhlicher und milder – erkennt mich nicht wieder.
Ja und?
Ales Steger am 30.4.21
Ein schönes Blasenkabinett:
Die Blase Angst, die Blase Haut, die Blase Welt, die Blase All.
Und immer wieder, die Schwierigste von allen,
Die Nie – und Nicht, die Niemandsblase Ich.
Ich habe, also, ich habe schon als Kind
Mich gern in dunkle Worte eingehüllt,
Gefühlt, wie mit meinem, wie mit der Worte Atem und mit Träumerei
Die Worte wuchsen, mit Schwere leichter wurden, bis wir abhoben.
Der Flug hat mir samt Schweigen immer wieder ein Gehör verpasst.
Nicht mir: dem Ich und Ich und ich.
Und aus den vielen ich und ich und ich wuchs manchmal auch ein Du.
Das finde ich aber in keinem Kabinett.
Judith Keller am 3. 5. 21
Und aus den vielen ich und ich und ich wuchs manchmal auch ein Du.
Der Morgen (derjenige des dritten Mai) stolziert wie ein glänzender Löwe dem Festmal entgegen. Er wird den Mittag verspeisen, der ihm schon entgegeneilt. Mir ist es zu früh.
Gestern auf Besuch bei S. Ich erzähle ihm über die wiedergelesenen Texte von Adelheid Duvanel (das Buch Beim Hute meiner Mutter) und wie die Einsamkeit der Figuren dort immer einen so kräftigen Ausdruck findet. Es ist, wie wenn man beim Lesen ein starkes Getränk schluckte. In diesen Erzählungen spielen noch die Einsamsten Klavier, hören Kassetten, schreiben Briefe oder malen. Sie tragen Brillen mit gelblich gefärbten Gläsern, haben Zahnlücken und stricken zum Beispiel dem unglücklich Verehrten einen Schal, der später wütend zurückgewiesen wird.
Wie heute, in der digitalen Welt, auf eine lebendige Weise über die Einsamkeit schreiben?
Vorvorgestern beobachtet: Der Ärger einer Frau über die andere Frau, der plötzlich herausbrach, als sie feststellte, wie die Andere wiederholt, schon zum x-ten Mal (!!!), um eine Zigarette bei einem Dritten bat, den es nicht einmal zu stören schien und der auch sofort damit herausrückte. Die Überraschung über diesen Ärger im Gesicht der Zigarettenverlangerin.
Vorgestern: Für einen entfernt bekannten Mann auf seine Bitte hin Tinder-Fotos gemacht. Er wollte eines, auf dem er ganz natürlich aussehe und tatsächlich, das dritte von den vierzig Aufnahmen, erfüllte seinen Wunsch. Er lächelte abenteuerlich darauf, gewitzt, schien mitten in einem Gespräch und war es ja auch.
Und sonst so?
Den ganzen Tag Vergangenheit produziert.
Er ist der Einzige, der für sich Verständnis hat.
Vom Wind geschluckt.
Der kratzende Stolz.
Es wird immer interessanter.
Das wäre in etwa der Rahmen.
Aleš Steger am 6.5.21
Ich liebe es vom Wind verschluckt zu werden.
Sich an den harten Zähnen der Bora festzuhalten,
Abzuheben, verhüllt im Inneren des Windes.
Der Preis für die Reise: das eigene Verschwinden.
Dunkle Tannenspitzen kratzen am Unterleib des Windes
Und an mir, der ich nicht mehr bin.
Über Wälder und Moor nähern wir uns meiner ehemaligen Stadt.
Den Demonstranten am Platz der Republik fliegen die Haare zum Himmel,
Und die Politiker verlieren Kopf und Hut.
Ich rieche Angst. Der Wind saugt Angst in sich ein, wird zur Angst.
Einige blicken auf die dunklen Wetterzeichen und fliehen.
Einigen kann der Wind nichts antun.
Sie sind schon längst zu purer Schwere verhärtet.
Polizei rückt an. Die verbleibenden Demonstranten
Werden zu roten Pflastersteinen.
Schreie, Schreie zerschneiden den Körper des Windes.
Ich kann sie nicht loswerden. Der Wind ist nichts als ein Menschenschrei.
Wir fliegen weiter im Kreis, eine kurze, eine lange Zeit.
Dreißig Jahre später wird der Anführer der Demonstranten Premier,
Der Premier ein Diktator.
Die Schreie bleiben die Gleichen im Wind,
Im Wind der Widerstand des Kreises
Und die Frage, wie in Zeiten wie diesen,
Im Bauch des Windes zu bestehen,
Zu sein und nichts zu sein außer Flug, außer Luft, außer Nichts.
Ich höre wieder Sirenen, Fluchen und Schreie.
Bald schon werde ich auf die Welt herunterhageln,
Ein vergänglicher weißer Stein unter Roten.
Judith Keller am 10.5.21
Besteht nicht die Gefahr eines Wirrwarrs?
Ich habs im Kurs gelernt.
Aus den Departementen kam geballter Widerstand.
Man sprach immer nur von „Klärungen.“
Der emsige Fürsprecher: er reagierte mit Aufbrausen auf fast jede Frage.
Zögern, zaudern und klagen.
Alles, was man sich nicht vorstellen kann und trotzdem geschieht.
Dunkle Tannenspitzen kratzen am Unterleib des Windes.
Auch die jungen Blätter der Bäume boten sich an.
Tendenziell befinden wir uns in der Schwebe.
Erlebnisfremd.
Der Augenschein vor Ort. Sprich Liegewiesen und so weiter.
Wir können einerseits nicht klagen.
Die Mutter am Muttertag: Ihnen zu liebe, den erwachsenen Kindern, bleibt sie widerwillig zu Hause, um den Strauss zu empfangen.
Und genau hier setze ich an.
Im Moment.