Wir sitzen in der Strassenbahn, raus aus den Vororten, rein in die Stadt, wir haben die achte Stunde geschwänzt und Marina malt mit Edding Punkte auf die Scheibe. „Warum malst du Punkte?“, sage ich. „Das sind keine Punkte“, sagt Marina, „das sind Schneeflocken, sieht man doch, oder?“ „Es gibt keine schwarzen Schneeflocken.“ „Ach was. Nur, weil diese Stadt voll von Glas und Stahl und Teer ist, sagst du ja auch nicht, dass es kein Gold gibt auf der Welt. Mit schwarzen Schneeflocken ist es dasselbe, sie sind einfach nur sehr selten, weisst du.“ „Von wegen“, sage ich, doch als Marina mir den Edding in die Hand drückt, male ich unter das Flockengestöber einen schwarzen Schneemann. Wenn jetzt ein Schaffner kommen würde, um uns auszuschimpfen für die Schmierereien, könnte ich zu ihm sagen, hör mir mal gut zu, du Möchtegernpolizist, das waren wir nicht, wir trinken nämlich Wodka aus Wassergläsern und küssen fremde Typen und warten vor irgendwelchen Kneipen auf den Sonnenaufgang, und fürs Schneemannbauen sind wir zu alt. „Warum hast du keine Nase gemacht?“, sagt Marina, als ich fertig bin. „Schneemänner haben Nasen. Aus Karotten.“ „Es gibt aber keine schwarzen Karotten“, sage ich. „Dafür gibt es welche, die lila sind, wusstest du das?“ „Du spinnst.“ „Gar nicht! Meine Mutter hat mir in der zweiten Klasse mal eine zu meinem Pausenbrot dazu gekauft, und die ist dann monatelang in meinem Rucksack rumgelegen und ganz schrumpelig geworden, weil ich sie nicht essen wollte. Echt jetzt, das ist voll wahr. Eskimoehrenwort.“ Ich schüttle den Kopf. Marina erzählt andauernd solche Geschichten, von schwarzen Schneeflocken und lila Karotten und irgendwelchen rumänischen Verwandten von ihr, die schon mal einen Geist bei sich zu Gast hatten, jedenfalls gab es da einen Mann aus dem benachbarten Dorf, der an einem sommerschweren Abend im August in der Küche von Marinas Tante gesessen ist und schwarzes Brot und Speck gegessen hat und gegen Mitternacht wieder ging, sagt Marina, und am nächsten Tag hat eine Nachbarin der Tante erzählt, ebendieser Mann sei schon am vorigen Morgen tot in einem Bach aufgefunden worden. „Das mit dem Eskimoehrenwort hast du auch bei der Geschichte mit dem Geist gesagt.“ „Na und? Die stimmte ja auch.“ „Wer’s glaubt.“ „Nervensäge“, sagt Marina und lacht. „Hast du Feuer?“ Ich nicke und hole mein Feuerzeug aus der Tasche meiner Jeans, die schon zerrissen war, als ich sie gekauft habe, und jetzt, ein Sommer später, noch zerrissener ist, und zünde uns beiden je eine Zigarette an und denke, dass man in Strassenbahnen vielleicht nicht rauchen darf, vielleicht aber doch, denke, dass da sicher irgendwo ein Schild hängt, wo ich das nachlesen könnte, wenn ich wollte, ich will aber nicht. Eine Weile rauchen Marina und ich schweigend. Durch die Fensterscheiben sickert der blasse Winterschimmer in die Strassenbahn. Ich frage mich, was wir jetzt machen, wo wir hingehen, wen wir treffen, denn um diese Zeit sind Klara und Lukas und die Zwillinge und der Henker noch nicht in der Stadt, und in den Kneipen sitzen nur die Fünfzigjährigen rum, die graue, raue Bartstoppeln auf den Wangen haben und den fahlen Nachgeschmack ihrer Lebenslügen mit Whisky hinunterspülen. „Wir sollten was essen gehen“, sage ich. „Pommes bei Mario?“ „Pommes bei Mario klingt gut.“ Pommes bei Mario, das ist unser Ritual, eines unserer vielen Rituale; wenn wir früher im Sommer mit unseren Familien zum Baden raus an den Fluss gefahren sind, in dem man beim Tauchen die sich aneinander reibenden Steine singen hörte, haben wir bei der Rückkehr immer noch auf einen Besuch bei Mario bestanden, egal, ob wir zuvor schon drei Eistüten gegessen hatten, denn Mario, das war nicht nur eine Imbissbude, das roch nach Strassenstaub und auf dem Grill zischendem Fleisch und Zigarettenrauch, der von den lachenden Jungen zu uns hinüberzog. „Weisst du noch, wie wir schon mit zehn ständig da rumgelungert sind?“, sage ich. „Wie könnte ich das vergessen?“ Sie lachte. „Mario hat uns immer doppelt Ketchup und Mayo gegeben, und während des Essens kam meistens irgendwann der Punkt, wo wir uns zusammen unter dem Tisch verkrochen haben, weil Alex uns unsere Pommes klauen wollte.“ Ich denke, Marina hätte lieber nichts von Alex gesagt, und wenn doch, denke ich, wäre es besser gewesen, es wäre jetzt Sommer, denn im Sommer kann man über solche Bemerkungen hinweggehen, man kann in den Himmel schauen, der sich weit öffnet, und mit dem Fahrrad den Hügel hinunterbrausen, so dass der Fahrtwind die Haare bauscht, und im Freibad aus dem Ghettoblaster der Zwillinge laut Musik hören, bis die Rentner sich beschweren und die schlechten Gedanken vergessen gehen. Doch es ist Winter. Der Himmel ist ein Leichentuch, wolkenweich, eng über der Stadt gespannt. „Wie … wie geht es ihm jetzt?“ „Wie immer eben.“ Marina bläst einen Schleier aus Rauch um ihr Gesicht, der an den Rändern ausfranst. „Knast ist Scheisse.“ Ich denke an Alex, an seine Augen, die die gleiche dunkle Farbe haben wie die von Marina, Tintenaugen, Kohleaugen, an die kleine Narbe mit der Form von Italien über seiner rechten Braue, an die Kakteen, die in seinem Zimmer auf dem Fensterbrett gestanden sind und die ich manchmal giessen durfte, an die Polaroidfotos, die er von Marina und mir machte, an seine Sweatshirts, an denen ich gerochen habe, aber nur dann, wenn niemand hinsah. „Aber ändert sich denn gar nichts?“, sage ich. „Ich meine, es gibt doch frühere Entlassungen wegen guter Führung. Oder so was.“ „Gute Führung? Alex?“ Marina holt den Edding wieder aus ihrer Tasche und fängt an, schwarze Linien auf ihre Handfläche zu malen, Strahlen, die sich überkreuzen, zusammenfinden und wieder auseinandergehen, ganz und gar ohne System. „Schau mal, ich hab dir noch eine Geschichte: Es war einmal ein Junge, der hatte eine Schwester, und die Schwester hatte eine beste Freundin, und eines Abends, als sie fünfzehn waren, wollten die Schwester und die beste Freundin unbedingt mit dem Jungen in die Clubs rein, und der Junge sagte nein, dann sagte er ja, und als Mitternacht schon vorbei war, wollte ein anderer Junge die beste Freundin küssen, aber die wollte nicht, und als der andere Junge sie an sich drückte, fing der erste Junge mit dem anderen Jungen zu kämpfen an, und dann war da ein Messer, und auf einmal war der erste Junge im Gefängnis und bekam kein Zeugnis wegen guter Führung und die Schwester und die beste Freundin fuhren in der Strassenbahn und rauchten und nichts änderte sich je. Ende.“ Marinas Handfläche ist jetzt ganz schwarz von dem Edding. An diesem Abend suche ich im Internet nach lila Karotten und auf Wikipedia steht, dass es sie tatsächlich gibt, diese Karotten, die lila sind wie Knutschflecke, und da denke ich, dass die Geschichte von dem Geist vielleicht auch wahr ist, und auch der ganze Rest.
Winter