Christian Haller

Christian Haller, geboren 1943 in Brugg. Studium der Zoologie in Basel. Arbeitete u. a. als Bereichsleiter der Sozialen Studien am Gottlieb-Duttweiler-Institut und als Theaterdramaturg in Baden. Er lebt als freier Schriftsteller in Laufenburg.
(2018)
Werke (Auswahl)
Reise im Korbstuhl. Vers-Epos.
Wolfbach Verlag, 2018
Das unaufhaltsame Fliessen.
Luchterhand Literaturverlag, 2017
Die verborgenen Ufer.
Luchterhand Literaturverlag, 2015
Laub vor dem Winter.
Wolfbach Verlag, 2014
Der seltsame Fremde.
Luchterhand Literaturverlag, 2013
Aus dem Alphabet der Bäume.
OFFIZIN Verlag, 2010
Die Stecknadeln des Herrn Nabokov.
Luchterhand Literaturverlag, 2010
Trilogie des Erinnerns.
btb Verlag, 2008
Die verschluckte Musik.
Luchterhand Literaturverlag, 2001
Strandgut.
Luchterhand Literaturverlag, 1991
Das unaufhaltsame Fliessen
Luchterhand Literaturverlag, 2017
Christian Haller blickt in seinem zweiten des auf drei Bände konzipierten autobiografischen Grossprojekts auf die Jahre zurück, die geprägt waren von Entscheidungen für seinen Beruf und für die Literatur. Es ist ein stiller Roman, ein Fliessen des Erzählens, das uns in einer ruhigen, unbeirrbaren Vorwärtsbewegung durch die 1960er und 1970er Jahre trägt.
Aus: Christian Haller. Das unaufhaltsame Fliessen. Luchterhand Literaturverlag, 2017
Ein, zwei Wochen später erhielt ich einen Brief mit dem Signet eines Luzerner Hotels und dem Vermerk G.K. auf dem Umschlag. Als ich ihn öffnete, stockte ich, hörte wie Georg Kreisler an dem gemeinsamen Abend gesagt hatte, er werde mir «rücksichtslos sagen, was er von meinen Arbeiten halte», und ich nahm meinen Mut zusammen, faltete das Briefpapier auseinander, las, was mir Georg Kreisler schrieb: «Lieber Herr Haller», stand da in Maschinenschrift, «Ich muss Sie leider ermutigen …»
Fr, 11.05.18, 14:00
Sa, 12.05.18, 11:00
So, 13.05.18, 15:00
Laub vor dem Winter
Wolfbach Verlag, 2014
Wo das Laub vor dem Winter fällt, da entdeckt sich jenigen, die genau hinschauen, vieles, was eigentlich schon lange da gewesen ist: Da geben Fotos in Schwarz und Weiss Blicke auf die weit zurückliegende Kindheit frei, «unterm nebelgrauen Gefieder» eines Reihers rumort ein «quälender Hunger» und in Ufernähe mitzuerleben sind die «Königsdramen der Enten».
Aus: Christian Haller. Laub vor dem Winter. Wolfbach Verlag, 2014
Heute am Ufer
warf ich die Blätter ab
blickte kahl in den Fluss
liess auch die Äste verströmen
fühlte im Grund die Wurzel
den Halt verlieren
Fr, 15.05.15, 11:00
Sa, 16.05.15, 12:00
Sa, 16.05.15, 14:00
Die Stecknadeln des Herrn Nabokov
Luchterhand Literaturverlag, 2010
Bekannt geworden ist Christian Haller mit der gewichtigen «Trilogie des Erinnerns», die ein Zeitpanorama des 20. Jahrhunderts zeichnet und zugleich die eigene Familiengeschichte erzählt. Nun wendet er sich der kleinen Form zu. Die Stecknadeln des Herrn Nabokov reihen Beobachtungen, Assoziationen und Gedanken aneinander: Alltägliches wie eine Zeitungslektüre oder eine Autofahrt, aber auch Vergängliches oder tatsächlich Vergangenes.
«Zur Kunst gehört, niemals die Stecknadel sichtbar zu machen, an der hängt, was vorgibt zu schweben» – man könnte dies als Motto allen Essays voranstellen. Sie kommen federleicht daher, und in der schwebenden Leichtigkeit liegt genau ihr literarisches Gewicht.
Aus: Christian Haller. Die Stecknadeln des Herrn Nabokov. Luchterhand Literaturverlag, 2010
Kürzlich sass ich mit einer Gruppe von Leuten zusammen, die versuchte, einen gemeinsamen Termin zu finden. Vier blätterten in der Agenda, einer tippte auf dem Smartphone, jemand rief: – Der 22.! Alle schüttelten die Köpfe, alle wendeten die Seite (wie das bei einem Smartphone geht, weiss ich nicht), ein anderes Datum, ein erneutes Kopfschütteln, es wurde spät am Abend und noch später in der Agenda, dem Frühjahr folgte der Frühsommer, danach waren sowieso alle in den Ferien, und man beschloss, sich per E-Mail weiter zu unterhalten.
Fr, 03.06.11, 16:00
Die verschluckte Musik
Luchterhand Literaturverlag, 2001
Aus: Christian Haller. Die verschluckte Musik. Luchterhand Literaturverlag, 2001
Es schwankt, sagte Madame S., stand wie festgewurzelt am oberen Ende des Stegs, die Hand auf das Bruststück des Leinenkostüms gelegt, den Schatten des breitkrempigen Hutes über den Augen. Ihr Blick war hart und starr, als hätte sich Grossmama in eben dem Moment trotzig gegen jegliche Bewegung entschieden, ein Protest gegen die unsicheren, schwankenden Lebensumstände, die zu Schiffsreisen führten, einem „Geschaukel“, wie sie vorausgesagt hatte, und jetzt durch das Scheuern des Schiffbords am Holz der Landungsstelle bestätigt sah.
Ja, es schwankt, sagte der Herr in schattendunklem Anzug, den Hut steif auf das schmale Gesicht gesetzt, das mit der Spitze seines Kinns auf den Flügeln des Vatermörders balancierte. Ja, es schwankt, sagt der Herr, der mein Grosspapa werden würde, doch das wird sich geben. Und er sagte es leise, wie es seine Art war, ohne die weichen, sinnlichen Lippen, die ein blonder Schnauzbart vermännlichte, allzu sehr zu bewegen, doch in einem Ton, der erst fein und zögerlich einen Faden Resignation mitspann. Er neigte sich vor, fasste den Griff des Koffers, der aus einem dicken Rindsleder genäht war und zwei Messingschlösser besass, ein breiter, aber nicht allzu grosser Koffer, und Grosspapa hob ihn vermutlich in dieser ergebenen und entschlossenen Art auf, die ich später – sehr viel später – noch oft sehen sollte.
Fr, 10.05.02, 17:00
Aus: Roman (erscheint im Herbst)
Luchterhand Literaturverlag, 1991
Aus: Christian Haller. Strandgut. Luchterhand Literaturverlag, 1991
Sid schwitzte. Der Tisch rechts unten, getrennt durch ein Geländer, war frei. Am Tisch oben, neben dem Eingang, sass ein älteres Ehepaar, Engländer, wie leicht zu erkennen war. Sie trug ein Hütchen au dem angegrauten, ondulierten Haar. Er tat wohl irgendeinen Job, bei dem man festsass, hängende Schultern und langsame Bewegungen bekam. «Sie fahren jedes Wochenende an die See» - und tranken Bier in synchronen Bewegungen und kleinen Schlucken, sahen schweigend auf den Platz. Selbst die Reise nach Italien würde ihre LEBENSGEWOHNHEITEN nicht berühren - und das Wort löste sich aus dem Sinngefüge, trieb auf den Schmerzen, verband sich mit Tanja, zerfiel:
LEBENS WOHNHEITEN -:
Unverlierbar, wie etwas Unendliches GEWOHNT IM LEBEN, ANS LEBEN GEWÖHNT, und die Selbstverständlichkeit des warmen, geborgenen Lebens -: eingelullt von den Wahnheiten, die man sich erwohnt hat - Jahre um Jahre -: erwohnt zu einem Haus, zu einer Stelle zu LEBENS-GEWONNEN-HEITEN... Und während Sid dem Wort durch die Irrungen seines Gehirns nachjagte, dabei einen stechenden Neid auf das englische Ehepaar verspürte, sah er sie…
Er sah Tanja!