Aus dem Arabischen von Joël László

Das Studio, in dem ich seit meiner Ankunft in Solothurn arbeite, geht direkt auf die Aare. Ich weiss, dass der Fluss durch die Stadt fliesst und sich bis nach Olten und darüber hinaus in weitere Städte des Kantons erstreckt. Über den Fluss führt eine Eisenbahnbrücke. Fährt ein Zug darüber, höre ich es bis ins Schlafzimmer, und lächle. Bevor ich mich morgens an den Laptop setze, um zu schreiben und zu arbeiten, werfe ich lange Blicke auf den Fluss. Und ich frage mich: Wie kommt es, dass du hier gelandet bist?

Ich antworte mir: Das Schreiben, Wagdy… Das Schreiben hat dich hierher geführt …

Bei mir zu Hause wohnen Menschen der Mittelschicht nicht am Nil. Auch Schriftsteller nicht. In Zamalek, in Agouza oder in der Garden City mitten in Kairo – oder an welcher anderen Stelle er auch fliesst –, stets ist der Nil gesäumt von luxuriösen Gebäuden, die entweder von internationalen Firmen oder von Fünfsterne-Hotels benutzt werden.
Die Ägypterinnen und Ägypter der Mittelschicht mögen in der Nähe des Nils arbeiten. Sie mögen ihre Arbeitszeit in Büros zubringen, die auf den Nil gehen. Diese Büros sind im Besitz grosser und bedeutender Firmen. Am Fluss selbst wohnen sie jedoch bestimmt nicht. Direkt sehen können sie ihn einzig, wenn sie an der Corniche sitzen. Die Corniche – die Promenade am Nil in Kairo – wurde immer wieder verändert und erneuert. Die alten Bäume und Gartenanlagen der Stadt sind verschwunden. Oder ihre Flächen wurden verkleinert. Denn die Hauptstadt Ägyptens erlebt dieser Tage den grössten Kahlschlag an seltenen und historischen Baumbeständen ihrer Geschichte.

Wer den Flughafen verlässt und über den Vorort Heliopolis nach Kairo hineinfährt, fühlt sich wie in Abu Dhabi. Überall findet er Brücken und Hochstrassen. Man sagt, dass die Brücken – über Heliopolis hinweg – die Zufahrt zur neuen bürokratischen Hauptstadt, die in der Wüste liegt, erleichtern sollen. Ebenfalls sagt man, dass Ägyptens Herrscher Brücken errichteten, um den Bürgerinnen und Bürgern sichtbare Erfolge vor Augen zu führen. Hosni Mubarak rühmte sich seinerzeit dafür, Ägyptens bedeutendster Herrscher in Bezug auf das Errichten von Brücken zu sein. Was jetzt in Kairo vor sich geht, stellt Hosni Mubarak in den Schatten. Es beweist, dass einer gekommen ist, der ihm den Meister zeigt im Brückenerrichten.

Parks und öffentliche Gärten sind uns in Kairo keine mehr geblieben. Entweder wurden sie von Unternehmen aufgekauft, um noch mehr Compounds zu bauen. Oder aber sie wurden beseitig, um Platz für Brücken zu schaffen.
In Ägypten sind wir des Zugangs zu öffentlichen Gärten und Parks beraubt.
Der Gärten beraubt.
Der Bäume beraubt.
Die Literatur … sie wenigstens kann uns noch einen Garten schenken … vermag es, uns ins Paradies zu heben. Und das Paradies, so wie wir Muslime, Araber und Ägypter es kennen, ist ein Ort voller Bäume, Gärten und herabhängender Früchte; voller Landschaften und Flüsse, die den Blick erfreuen.

Die Literatur ist ein Garten. Und in Zeiten der Krise, der Kriege und Pandemien, der Blockade, Isolation und des Gefangenseins, der Krankheit und des Todes – da denken wir daran, einen Garten aufzusuchen.
Kriege gehen zu Ende. Die Menschen befrieden die Orte der Zerstörung, indem sie Bäume pflanzen …
Tritt der Gefangene aus dem Gefängnis und spürt er den Hauch der Freiheit, dann sucht er einen Garten auf …
Stirbt der Mensch … so ist die Belohnung, die er sich erhofft, der Eintritt ins Paradies … also ein Garten.

Und wenn wir schreiben … dann möchten wir, dass von den Seiten, die wir verfassen, die Gärten wachsen. Wir stellen uns vor, dass dank dem, was wir aufschreiben, Grünes über das Graue wächst, welches die Farbe der Zerstörung, des Todes, die Farbe des Asphalts ist. Grün ist besser als Grau. Und das Verfassen von Literatur ist besser als an die Isolation oder an den herannahenden Tod durch die Pandemie zu denken.

Auch im vergangenen Jahr hat man in Kairo munter weiter Brücken errichtet. Dies obwohl man eine Ausgangssperre in Ägypten verhängt hat. Diese Sperre jedoch galt ausschliesslich den Zivilisten. Die Bauarbeiter, die mit dem Errichten von Brücken beschäftigt waren, durften in ihrer Arbeit fortfahren. Und so kam es, dass ich mich in diesen schwierigen Zeiten, wo wir unter einer Ausgangssperre lebten und die Strassen geschlossen waren, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen, fragte, ob die Pandemie die Arbeiter, die die Brücken errichteten, wohl ebenfalls treffen würde, oder ob sie sie fürchtete, gerade weil sie Brückenerrichter sind …?

In jenen Tagen schrieb ich eine Kurzgeschichte mit dem Titel: Das braune Blut der Bäume. Ich stellte mir eine Stadt vor, wo die Regierung eine Ausgangssperre verhängt, um die Bevölkerung zu unterdrücken. Den Menschen blieb tatsächlich nichts anderes mehr, als zu Hause zu bleiben. Die Soldaten aber, die die Ausgangssperre durchsetzten, langweilten sich. So kamen sie auf die Idee, auf die Bäume zu schiessen, die die Strassen bestanden. Die Baumstämme jedoch begannen plötzlich braunes Blut abzusondern. Sie hörten gar nicht mehr auf zu bluten. Bis die Strassen damit angefüllt waren. Wenig später machten die Soldaten eine schreckliche Entdeckung: Dieses Blut, das Blut der Bäume, verzehrte die Sohlen an ihren Schuhen. Danach begann es am Fleisch ihrer Füsse zu zehren… und so löste sich das Fleisch der Soldaten im Blut der Bäume auf, bis sie sämtlich niedergestreckt und vernichtet waren. Die Bäume aber, mit ihren durchbohrten Stämmen, ragten hoch wie eh und je.

Die Teilnahme an den Solothurner Literaturtagen ist eine wichtige Gelegenheit für mich, um mich an die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt – durch deren Mitte der Fluss fliesst – zu wenden und ihnen mitzuteilen, dass die Literatur ein Paradies inmitten des Lebens ist. Und dass sie wahre Wunder bewirkt. Etwa indem sie jemandem wie mir sämtliche gefällten Bäume seines Landes rückerstattet – durch die Gärten und Bäume eines anderen Landes, und sei es auch nur für einige Monate … denn auch der Eingang ins Paradies ist nicht unbedingt ein endgültiger.