Ryszard Kapuściński (PL)
Imperium. Sowjetische Streifzüge
Eichborn Verlag, 1993
Aus: Ryszard Kapuściński. Imperium. Sowjetische Streifzüge. Eichborn Verlag, 1993
Das Wort "Mafia" macht jetzt eine Blitzkarriere. Immer öfter ersetzt es das Wort "Nation". Wo früher hundert Nationen "in Eintracht und Brüderlichkeit" lebten, tauchen nun hundert Mafias auf. Die Nationen sind verschwunden, haben zu existieren aufgehört. An ihrer Stelle gibt es jetzt drei grosse Mafias die russische Mafia, die kaukasische Mafia, die asiatische Mafia. Diese grossen Mafias zerfallen in zahllose kleinere. Es gibt also eine tschetschenische und eine georgische Mafia, eine tatarische und eine usbekische eine Mafia aus Tscheljabinsk und eine aus Odessa. Diese kleineren Mafias zerfallen in noch kleinere und diese wieder in winzige. Winzig, jedoch gefährlich, mit Pistolen und Messern bewaffnet. Es gibt Mafias, die im ganzen Land arbeiten, andere, die auf Republiksebene aktiv sind, in einer Stadt, einem Viertel, einer Strasse, ja, sogar in einem einzigen Hof... Alle Mafias haben zwei Eigenschaften: a) ihre Mitglieder arbeiten nicht, führen aber ein sorgloses Leben, b) Sie müssen ständig irgendwelche Rechnungen begleichen... Diese Mafia-Obsession, das ständige Denken in Mafia-Kategorien, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen, es hat seine tiefen, tragischen Wurzeln. Die grossen Katastrophen zu Beginn des Jahrhunderts - der Erste Weltkrieg, der Oktober 1917, dann der Bürgerkrieg und der massenhafte Hunger - raubten in Russland Millionen Kindern Eltern und Zuhause. Diese Millionen von Waisen, diese Millionen "besprisorniki" zogen auf der Suche nach Essen und einem Dach...